- INTERVIEW
Interview mit Die Welt
Interview mit Luis de Guindos, Vizepräsident der EZB, geführt von Anja Ettel und Holger Zschäpitz
17. September 2025
US-Präsident Donald Trump greift offen die Unabhängigkeit der US-Notenbank Fed an. Sie sind bei der EZB der oberste Hüter der Finanzstabilität. Wie sehr beunruhigt Sie das Geschehen in den USA?
Eine unabhängige Zentralbank ist der beste Schutz vor hoher Inflation. Nur wenn die Investoren und Verbraucher ihr zutrauen, für stabile Preise zu sorgen, bleiben die Inflationserwartungen niedrig. Andernfalls droht eine gefährliche Spirale aus steigenden Löhnen und Preisen. Besonders kritisch wird es, wenn die Geldpolitik durch die Finanzpolitik eingeschränkt wird, also bei fiskalischer Dominanz.
Ihre Argumente scheinen Donald Trump allerdings nicht sonderlich zu beeindrucken.
Mein Standpunkt hierzu ist sehr klar: Wenn Regierungen in die Geldpolitik eingreifen, führt das später zu Inflation und steigenden Zinsen – das ist keine Theorie, sondern historisch belegt.
Wie bereitet sich die EZB auf dieses Szenario vor?
Was in den USA passiert, ist für uns von großer Bedeutung – die US-Wirtschaft spielt eine zentrale Rolle im globalen Gefüge. An den Spekulationen darüber, was passieren könnte, will ich mich aber nicht beteiligen. Für uns zählt die gesetzlich garantierte Unabhängigkeit der EZB – und die gilt.
Die Frage ist, wie lange noch. Frankreich weist für dieses Jahr ein Budgetdefizit von weit über sechs Prozent aus, ein klarer Verstoß gegen EU-Regeln. Die Verträge scheinen ihre Bindekraft also zu verlieren.
Die Lage ist dennoch nicht mit der in den USA vergleichbar. Die EZB wird nicht politisch angegriffen. Unsere unabhängige Geldpolitik ist entscheidend für das Wohl der europäischen Bürger. Und wir überzeugen am besten, indem wir unser Mandat erfüllen: stabile Preise in Europa.
Aber was, wenn die Renditen der Staatsanleihen in der Eurozone auseinanderlaufen, so wie während der Eurokrise. Müssen Sie dann nicht eingreifen, selbst wenn die geldpolitischen Bedingungen dagegen sprechen?
Für uns ist ganz klar: Die europäischen Verträge haben Vorrang. Angesichts der aktuellen Herausforderungen – ob in den USA oder anderswo – werden wir tun, was zu tun ist, um unser Ziel der Preisstabilität zu erreichen. Eine Zentralbank ist nicht nur aus sich heraus unabhängig, sie braucht einen stabilen politischen Rahmen. Frankreich ist ja nicht das einzige Land, gegen das ein Defizitverfahren läuft. Doch genau diese Regeln sind entscheidend für solide fiskalische Verhältnisse in Europa. Gerade angesichts steigender Verteidigungsausgaben und weiterer finanzieller Herausforderungen ist es wichtig, den Finanzmärkten zu signalisieren, dass wir geldpolitisch verlässlich bleiben. Was die Renditeunterschiede betrifft: Ja, in einigen Ländern sind sie gestiegen – in anderen aber wieder gesunken. Das wird oft übersehen.
Wie besorgt sind Sie über die Situation in Frankreich: Könnten die Probleme zum Auslöser einer neuen Eurokrise werden?
Ich äußere mich nicht zu einzelnen Ländern. Unsere Forderung nach Stabilität gilt für alle Euro-Staaten gleichermaßen – gerade in Zeiten wachsender globaler Unsicherheit.
Hat der EZB-Rat denn bereits über den Einsatz des sogenannten TPI diskutiert? Das Instrument soll ja Staatsanleihenkäufe durch die EZB ermöglichen, wenn sich die Finanzierungsbedingungen einzelner Euro-Staaten ungerechtfertigt verschlechtern.
Nein. Wir haben im EZB-Rat über TPI diskutiert, als wir das Instrument vor drei Jahren aufgelegt haben, seither aber nicht mehr – auch nicht im Hinblick auf eine mögliche Anwendung in einem bestimmten Land.
Was genau würde den Einsatz auslösen, wie groß müsste der Spread sein, damit Sie sagen: Jetzt legen wir los?
Die Kriterien sind öffentlich und klar definiert, jeder kann sie nachlesen. Weitere Details kommentiere ich nicht. Was ich sagen kann: Die Finanzmärkte, auch die Staatsanleihemärkte, verhalten sich ruhig und geordnet. Es gibt keine Anzeichen für Liquiditätsengpässe, und die Spreads zwischen den Staatsanleihen der Euro-Länder sind derzeit kein Grund zur Besorgnis.
Sie waren lange Finanzminister in Spanien, nun sind Sie seit sieben Jahren im EZB-Rat. Gerade weil Sie beide Seiten kennen: Fragen Sie sich nicht manchmal, warum die Mitgliedsländer so wenig europäischen Geist zeigen?
Da erinnere ich gern an Jean-Claude Juncker. Er sagte einmal: „Wir alle wissen, was zu tun ist – aber wir wissen nicht, wie wir dann die Wahlen gewinnen sollen.“ Das bringt das Dilemma auf den Punkt. Trotzdem ist Veränderung möglich. Schauen Sie sich Portugal, Italien, Griechenland oder meine Heimat Spanien an – vor 10, 15 Jahren und heute. Diese Länder haben die Krise überwunden und sind heute wirtschaftlich deutlich stärker – dank ihrer Reformen.
Nicht so schwer, wenn man Milliarden aus Fördertöpfen der EU bekommt, etwa aus dem Next Generation EU Fund. Können Sie nachvollziehen, dass das viele Bürger in Deutschland frustriert?
Ich sehe das anders. Europäische Solidarität schafft Vertrauen an den Finanzmärkte und bewahrt Stabilität. Davon profitieren wir alle. Wenn sich Länder wie Italien oder Spanien gut entwickeln, ist das auch für die Exportnation Deutschland ein Gewinn. Und zur Einordnung: Spanien hat 40 Milliarden Euro aus dem Fördertopf erhalten – bei einem jährlichen BIP von 1,3 Billionen Euro. Die Mittel aus dem dem Next Generation EU Fund waren hilfreich, aber nicht ausschlaggebend für den Erfolg.
Sie sprechen von Spaniens erfolgreichem Wandel, dabei hat das Land immer noch die höchste Arbeitslosenquote in Europa. Sehr erfolgreich klingt das nicht.
Spanien hat zwei große Stärken: ein gesundes Bankensystem und hohe Wettbewerbsfähigkeit. Der Tourismus hat sich seit dem Ende der Pandemie erholt, und das Land profitiert von vielen zugewanderten Arbeitskräften, vor allem aus Lateinamerika. Ich will gar nicht bestreiten, dass auch die EU-Förderung wichtig war, aber viel entscheidender waren die strukturellen Reformen. Und ja, die Arbeitslosenquote ist mit zehn Prozent noch zu hoch. Aber sie hat sich bereits halbiert und sinkt weiter.
Europa hat sich lange auf Deutschlands Stärke verlassen. Doch nun wackelt Deutschland selbst und der Next Generation EU Fund läuft 2028 aus. Soll diese Art von Transfers dauerhaft weitergehen?
Solidarität darf keine Einbahnstraße sein, das ist ganz klar. Wenn Länder durch gemeinsame Unterstützung Fortschritte machen, profitieren alle. Aber dafür müssen sie auch liefern: Reformen umsetzen, Verantwortung übernehmen. Darüber war ich mir mit meinem Freund Wolfgang Schäuble immer einig. Seine Idee der „tough love“ gilt mehr denn je: Hilfe ja – aber nur unter klaren Bedingungen.
Und Deutschland?
Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als Deutschland als „kranker Mann Europas“ galt. Sechs Jahre später war das Land wieder der Wachstumsmotor. Ich habe vollstes Vertrauen in die deutsche Wirtschaft. Natürlich gibt es Herausforderungen: Deutschland hat sich zu lange auf billige Energie aus Russland verlassen. Und sein bisheriges Geschäftsmodell mit Fokus auf Ausfuhren in die USA und nach China steht angesichts der zahlreichen Handelsstreitigkeiten vor Herausforderungen. Doch mit dem Sondervermögen für Infrastruktur hat Deutschland eine wichtige Weiche gestellt – und das sage ich auch als jemand, der seit fast acht Jahren durch dieses Land reist. Deutschland wird sich an das neue Umfeld anpassen – und tut es bereits.
In der vergangenen Woche hat der EZB-Rat entschieden, die Leitzinsen nicht zu senken. Die Märkte leiten daraus ab, dass die Zinsen gar nicht mehr sinken werden, weder in diesem noch im nächsten Jahr. Zu Recht?
Es gibt zwei zentrale Botschaften aus dem Treffen: Erstens halten wir den aktuellen Zinssatz unter den gegebenen Umständen für angemessen – basierend auf der Inflationsentwicklung, unseren Projektionen und der Transmission unserer Geldpolitik. Zweitens leben wir in einer sehr komplexen und unsicheren Welt mit zahlreichen Risiken – von geopolitischen Spannungen bis zu Handelsfragen, etwa zwischen China und den USA. Das kann Handelsströme verändern, etwa durch verstärkte chinesische Exporte nach Europa. Ein weiterer Punkt ist der Konsum: Trotz gestiegener Realeinkommen bleibt der Konsum der privaten Haushalte verhalten.
Woran liegt das?
Es mangelt wohl ein wenig an Vertrauen in die Zukunft. Derzeit ist die Arbeitslosigkeit niedrig, der Arbeitsmarkt stabil – aber viele Haushalte befürchten, dass bei ausbleibender Haushaltskonsolidierung höhere Steuern drohen. Möglicherweise bleibt der Konsum deshalb hinter unseren Erwartungen zurück.
Trotzdem: Liegen die Märkte mit ihrer Einschätzung richtig?
Die Märkte liegen nicht immer falsch – aber auch nicht immer richtig. Niemand kann die Zukunft exakt vorhersagen. Märkte reagieren volatil – eine Zentralbank darf aber nicht volatil sein. Deshalb müssen wir vorsichtig agieren. Und das tun wir.
Gibt es im EZB-Rat eine einheitliche Meinung dazu?
Die Entscheidung am Donnerstag war einstimmig. Im EZB-Rat sitzen 26 Mitglieder mit unterschiedlichen Perspektiven. Aber wir sind uns einig, dass wir alle Optionen offenhalten müssen. Sollte sich die Lage ändern, passen wir unseren Kurs an. Und ganz ehrlich: Wenn Sie jemanden finden, der die nächsten sechs Monate sicher vorhersagen kann – dann sollten wir ihn sofort einstellen!
Wir wollen noch über die Blockchain-Revolution und digitales Geld sprechen, eine Entwicklung, bei der Europa erneut zurückzufallen droht: Werden wir Stablecoins auch in Europa sehen oder bleibt es beim digitalen Euro?
Stablecoins und der digitale Euro schließen sich nicht aus. Wir entwickeln den digitalen Euro nicht wegen der Stablecoins, sondern als digitale Weiterentwicklung von Zentralbankgeld. Ziel ist eine einheitliche digitale Währung für Europa – vergleichbar mit einem Geldschein, der nicht in der Brieftasche, sondern auf dem Smartphone liegt. Damit wird auch Bezahlen im Onlinehandel möglich, wo Bargeld keine Rolle spielt.
Die Entscheidung über den digitalen Euro soll vielleicht erst 2026 oder 2027 fallen – aber dann ist es womöglich zu spät, weil die tokenisierte Welt bis dahin längst auf der Blockchain vom Dollar dominiert ist.
Europa darf hier nicht zurückfallen, doch zuerst brauchen wir die gesetzliche Grundlage. Ich bedaure, dass das Europäische Parlament erst im Mai nächsten Jahres hierüber entscheidet. Sobald die Regulierung steht, ist die EZB bereit, den digitalen Euro zügig einzuführen. Wichtig ist dabei nicht nur der Zeitfaktor – das System muss auch sicher und stabil sein. Daran arbeiten wir intensiv.
Was wäre, wenn eine große Stablecoin-Plattform morgen zusammenbricht – wäre Europa auf die Folgen vorbereitet?
Stablecoins spielen in Europa derzeit noch keine zentrale Rolle, ihre Marktgröße ist begrenzt. Dennoch stellen sich Fragen zur Finanzstabilität – vor allem in den USA, wo Stablecoins viel schneller wachsen und teils mit Anleiheportfolios verknüpft sind. Diese Entwicklungen müssen wir international beobachten. Der Stablecoin-Markt ist global, also muss auch die Regulierung global gedacht werden. Wir brauchen einen abgestimmten Rechtsrahmen und enge Zusammenarbeit zwischen den Institutionen, um regulatorische Lücken zu schließen und faire Bedingungen zu schaffen.
Wenn wir in zehn Jahren wieder miteinander sprechen – worüber werden wir dann reden: Wird alles gut sein, mit künstlicher Intelligenz und stabiler Inflation oder haben wir bis dahin ein völlig anderes Europa, in dem die Eurozone vielleicht sogar Geschichte ist?
Wenn Sie mich persönlich fragen – ich wäre sehr glücklich, wenn Atlético Madrid endlich die Champions League gewinnt. Aber im Ernst: Ich habe viele Jahre die Euro-Gruppe, den ECOFIN begleitet und jetzt die EZB, ich war und bin Teil dieser europäischen Gemeinschaft. Mein größter Wunsch ist, dass sich die populistischen Bewegungen in Europa nicht durchsetzen. Dass der europäische Geist stark genug bleibt, um ein geeintes und stabiles Europa zu sichern. Und dass wir alles dafür tun, damit dieses Ziel Wirklichkeit wird.
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