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Christine Lagarde
The President of the European Central Bank
  • INTERVIEW

Interview mit Expansión, Handelsblatt, Il Sole 24 Ore und Les Echos, durchgeführt am 7. Juni 2024 in Paris

Interview mit Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, geführt von Andrés Stumpf, Stefan Reccius, Isabella Bufacchi, Guillaume Benoit und Alexandre Counis

11. Juni 2024

Welche Lehren ziehen Sie aus dem restriktiven geldpolitischen Zyklus, der gerade zu Ende geht? Sie haben gesagt, dass sich die EZB Ihrer Meinung nach nicht in einem Zinssenkungszyklus befindet. Aber könnte die EZB nach nur einer Zinssenkung aufhören, ohne damit ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen?

Zunächst einmal haben wir den restriktiven geldpolitischen Zyklus noch nicht beendet. Schauen Sie sich die Realzinsen an. Wir befinden uns noch immer im restriktiven Bereich und wir müssen so lange weitermachen, wie es nötig ist, damit die Inflation wieder 2 % erreicht. Ein geldpolitischer Zyklus hat mehrere Phasen. Die erste Phase bestand aus einer schnellen und kräftigen Straffung um 450 Basispunkte in etwas mehr als einem Jahr. In dieser Zeit haben wir die Inflation um die Hälfte reduziert, von 10,6 % auf 5,2 %. Es folgte eine Phase, in der wir die Zinsen unverändert beließen. Diese dauerte neun Monate und die Inflation ging von 5,2 % auf 2,6 % zurück. Vor allem gegen Ende dieser Phase haben wir darauf hingewiesen, dass wir im Hinblick auf den weiteren Rückgang der Inflation hinreichend zuversichtlich sein müssen.

Und was hat Sie zu der Entscheidung von letzter Woche veranlasst?

Wir haben alle möglichen Daten analysiert, darunter einige aktuelle Zahlen, die hätten besser sein können, sowie die von unseren Fachleuten erstellten überarbeiteten Projektionen. Wir waren der Ansicht, dass der Inflationsabbau hinreichend fortgeschritten war und in den nächsten 18 Monaten weiter vorankommen würde, und so konnten wir die Zinsen senken. Wir verfolgen aber keinen vorab festgelegten Pfad. Bei jedem einzelnen Schritt auf diesem Weg werden wir die Lage neu bewerten, nicht nur dann, wenn wir neue Projektionen haben.

Was bedeutet das?

Wir haben einen angemessenen Beschluss gefasst, was aber nicht bedeutet, dass die Zinsen sich jetzt linear nach unten bewegen. Es könnte auch wieder Phasen geben, in denen wir die Zinsen unverändert belassen.

Das heißt, Sie brauchen für Ihre Entscheidungen also neue Zahlen, neue Prognosen?

Wir brauchen mehr Daten, etwa zu den Löhnen und dazu, wie die Stückgewinne gerade wachsen und einen Teil der Arbeitskosten absorbieren, sowie Daten zur Produktivität. Dies sind wichtige Faktoren, die die Dienstleistungsinflation antreiben. Hier liegt unser schwacher Punkt.

Und könnten diese Phasen, in denen Sie die Zinssätze unverändert belassen, länger als von einer Sitzung zur nächsten dauern?

Die Möglichkeit besteht. Wir müssen abwarten, wie sich die Arbeitskosten entwickeln. Und wir müssen beobachten, dass die Gewinne auch weiterhin die bisherigen Steigerungen auffangen. Unser Indikator für die Lohnentwicklung, der sogenannte Wage Tracker, zeigt in eine eindeutige Richtung, aber auf dem Weg dorthin könnten noch Unebenheiten auftreten.

Die Entscheidung, die Zinsen zu senken, war fast einstimmig. Aber dem Ton der verschiedenen Mitglieder des EZB-Rats nach zu urteilen, scheint dies ab jetzt nicht mehr der Fall zu sein. Wie gehen Sie mit unterschiedlichen Meinungen um? Werden Sie Entscheidungen erst dann treffen, wenn es eine große Mehrheit dafür gibt?

Seit meinem Amtsantritt vor viereinhalb Jahren versuche ich, allen Gehör zu schenken, die Ansichten aller Mitglieder des EZB-Rats zu respektieren und soweit möglich Informationen mit ihnen auszutauschen. Das werde ich auch weiterhin tun. Das hat sich bislang gut bewährt. Wir haben in der Vergangenheit Beschlüsse gefasst, ohne dass Einstimmigkeit herrschte. Zu einer Abstimmung ist es noch nie gekommen. Hin und wieder habe ich aber direkt in die Runde der Ratsmitglieder gefragt, ob sie die Entscheidung mittragen.

Ist die fehlende Forward Guidance zu den Leitzinsen ein Beleg für die große Uneinigkeit im EZB-Rat?

Absolut nicht. Wenn es ein Beleg für irgendetwas ist, dann für meine eigene felsenfeste Überzeugung, dass die Forward Guidance nicht hilfreich gewesen ist. Sie mag hilfreich gewesen sein, als die Zinssätze nahe an der Untergrenze lagen und wir eine quantitative Lockerung verfolgten. Aber momentan ist eine zeitabhängige Guidance nicht hilfreich.

Müssen sich die Märkte also an diese neue Ära ohne Guidance gewöhnen?

Wie kann man eine Forward Guidance geben, wenn die Unsicherheit sehr hoch ist? Dann legt man sich selbst Fesseln an – und wenn im Sturm die Wellen über Deck schlagen, kann man die Segel nicht einholen. Wir sind uns alle einig, dass die Unsicherheit groß ist, und wir sind uns grundsätzlich einig, dass uns die Forward Guidance in dieser Situation nicht helfen wird.

Lassen Sie uns kurz zu Ihrer Aussage zurückkommen, dass die aktuellen Zahlen hätten besser sein können. Das Lohnwachstum hat sich beschleunigt, und die Inflation ist zum ersten Mal in diesem Jahr gestiegen. Warum also sollte man den Kampf jetzt für gewonnen erklären?

Wir erklären den Kampf noch nicht für gewonnen, und es ist auch nicht so, dass wir vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen. Vergangenen September haben wir beschlossen, die Zinsen letztmalig anzuheben, und haben sie danach unverändert belassen. In unseren Projektionen überprüfen wir sorgfältig, wann wir damit rechnen können, unser 2 %-Ziel zu erreichen. In den Projektionen vom September, Dezember, März und Juni sind wir von einer Inflationsrate von entweder 2 % oder 1,9 % zu einem bestimmten Zeitpunkt im Jahr 2025 ausgegangen. Hier gibt es also Beständigkeit – wir gehen davon aus, dass wir unser Ziel im Jahr 2025 erreichen werden. Uns ist bewusst, dass wir auf dem Weg dorthin auf Unebenheiten treffen werden.

Eine Korrektur der Inflationsprognosen und gleichzeitig die erste Zinssenkung – ist das nicht schlechtes Timing?

Das Ziel ist 2 %. Wir haben uns ein fundiertes Bild davon gemacht, an welcher Stelle des Zyklus wir uns befinden und wie stark wir die Inflation bereits gesenkt haben. Wir haben versucht abzuschätzen, mit welchen zusätzlichen Unebenheiten wir rechnen müssen, und haben davon ausgehend beschlossen, die Zinsen zu senken.

Sie haben über die hohe Unsicherheit und die gebotene Vorsicht gesprochen. Zwei Gefahren bestehen aber nach wie vor: dass zu schnell gelockert wird mit den entsprechenden Folgen für Inflation und Wachstum und dass die Geldpolitik übermäßig restriktiv ist oder zu lange restriktiv bleibt. Den Satz „eine Lockerung der aktuellen geldpolitischen Straffung wäre angemessen“ findet man in Ihrer Erklärung zur Geldpolitik nicht mehr. Warum?

Unser Ausganspunkt war, dass wir trotz der Zinssenkung weiterhin restriktiv sein müssen. Der Grund für die Streichung der „Easing Bias“, also des Hinweises auf eine tendenziell expansive geldpolitische Ausrichtung, war, dass wir unsere Entscheidungen von der Datenlage abhängig machen und wirklich verstehen wollten, in welche Richtung es geht und wann wir die 2 % erreichen werden.

Welches Risiko würden Sie lieber eingehen?

Ich will unser Ziel von 2 % erreichen. Wir werden kontinuierlich die Risiken bewerten und zum richtigen Zeitpunkt die richtige Entscheidung treffen müssen.

Ich weiß, dass Sie keine Forward Guidance zu den Zinssätzen abgeben. Aber wann wäre es Ihrer Ansicht nach angemessen, den „natürlichen“ Zinssatz ins Gespräch zu bringen? Denn diese Diskussion wird kommen, oder?

Ja, da bin ich mir sicher. Aber für diese Diskussion ist es noch viel zu früh. Der natürliche Zinssatz dürfte höher sein als vor der Pandemie, aber im Moment sind wir noch weit davon entfernt. Darum macht es meiner Meinung nach keinen Sinn, schon jetzt mit der Diskussion anzufangen.

Warum sind die Projektionen Ihrer Meinung nach zuverlässiger als vor zwei Jahren?

Wenn wir uns die Höhe der Projektionsfehler anschauen, dann ist diese deutlich geringer als früher. Niemand liegt gerne daneben. Die Fachleute der EZB waren die ersten in der Zentralbankwelt, die sich mit den Ursachen der Fehler auseinandersetzten. Dies lag zu einem großen Teil an den Energiepreisen und daran, dass nicht korrekt beurteilt werden konnte, in welche Richtung sie sich bewegen, was angesichts des Ausmaßes der Risiken und der Geschwindigkeit, mit der sich die Preise veränderten, kaum überrascht. Es gibt außerdem einen indirekten Effekt, der in andere Variablen einfließt.

Sie haben auch die Wachstumsprognose für den Euroraum angehoben. Würden Sie also sagen, dass die Wirtschaft endlich über den Berg ist und die Wachstumsdynamik zunimmt?

Die Wachstumsaussichten haben sich verbessert. Das konnten wir anhand einiger Zahlen sehen. Zudem ging dies aus Telefonumfragen bei Unternehmen auf verschiedenen Ebenen der Industrie und des Dienstleistungssektors hervor.

Die Arbeitslosigkeit geht zurück, die Beschäftigung nimmt zu. Die Löhne steigen, und wir verzeichnen Wachstum in einer Zeit, in der die Inflation sinkt. Die Sparquote ist immer noch sehr hoch, aber die Menschen geben mehr aus. Auch bei den Investitionen ist ein Anstieg zu beobachten. Er ist zwar nicht sehr stark, aber er kommt. Im Baugewerbe konnte dank eines milden Winters in diesem Jahr durchgearbeitet werden, auch in Deutschland. Und die Finanzierungskosten haben begonnen, leicht zu sinken. Diese Beispiele zeigen meiner Meinung nach, dass die Wirtschaft wieder Fahrt aufnehmen wird.

Warum gehen Sie davon aus, dass sich die Gewinnmargen verringern werden, wenn höheres Wachstum den Unternehmen doch eigentlich mehr Spielraum für Preiserhöhungen, also mehr und nicht weniger Preissetzungsmacht verleiht?

Wie wir in unserer Erklärung zur Geldpolitik dargelegt haben, ist das in der Tat eines der potenziellen Aufwärtsrisiken für die Inflation.

Hochverschuldete Euro-Länder könnten wieder ins Visier der Investoren geraten, weil die Unterstützung durch die EZB in Form umfangreicher Anleihekäufe ausläuft und ein neues EZB-Notfallkaufprogramm namens TPI Auflagen hat. Befürchten Sie nicht, die EZB könnte handlungsunfähig sein, weil Länder in Not die EU-Schuldenregeln missachten?

Mitunter wurde angenommen, dass das TPI nur funktionieren würde, wenn sich ein Land nicht in einem Defizitverfahren befindet. Das stimmt aber nicht. Die Europäische Kommission kann von einem Land eine Reihe von Dingen verlangen, damit es wieder in die richtige Spur kommt – also Schulden abbaut, und gleichzeitig die wachstumsfördernden Investitionen beibehalten. Das ist ein Anreiz für die Länder, den neuen finanzpolitischen Rahmen einzuhalten, der Investitionen für mehr Wachstum und Produktivität ermöglicht. Wenn dieser Rahmen eingehalten wird, dann funktioniert das TPI und das Land hat ein Anrecht darauf.

Und Sie befürchten nicht, dass es nach dem Ende der PEPP-Investitionen zu gewissen Marktbewegungen kommen könnte?

Unsere Politik in Bezug auf das Pandemie-Notfallankaufprogramm ist bis zum Überdruss erläutert worden. Es ist allgemein bekannt, dass wir die Bestände in der zweiten Jahreshälfte um durchschnittlich 7,5 Mrd. Euro pro Monat reduzieren, und dass wir beabsichtigen, die Wiederanlage Ende 2024 einzustellen. Die schrittweise Einstellung des APP ist reibungslos verlaufen. Auch die entsprechende Ankündigung zum PEPP ist bereits problemlos aufgenommen worden.

Dennoch wird es für die Finanzmärkte ein deutlicher Einschnitt sein. Immerhin wurden sie zehn Jahre lang durch Anleihekäufe in der einen oder anderen Weise unterstützt.

Schauen Sie sich unseren Fußabdruck auf den Märkten an. Die EZB hatte ihren Fußabdruck vergrößert, und nun verkleinern wir ihn allmählich wieder.

Die Stabilität des Euroraums wird also nur schrittweise auf die Probe gestellt?

Wenn es aufwärts geht, die Rahmenbestimmungen feststehen und die Staaten ihre gegenseitigen Vereinbarungen einhalten, sollte in der Europäischen Union und im Euroraum auch weiterhin Wohlstand herrschen.

Es würde mich sehr interessieren, wie Sie persönlich zur Entstehung des TPI beigetragen haben. Es ist ein ausgesprochen mächtiges Instrument. Meinem Eindruck nach konnten Sie viel weiter gehen als Mario Draghi. Er hat das APP aus der Taufe gehoben, Sie hingegen das PEPP, das sich überdies durch große Flexibilität auszeichnet.

Mario Draghi hat das Instrument der geldpolitischen Outright-Geschäfte (OMT) geschaffen, um seine Ankündigung „Whatever it takes“ in die Tat umzusetzen. Das TPI ist ein anders geartetes Instrument. Es setzt kein Programm des Europäischen Stabilitätsmechanismus voraus, für das bestimmte Kriterien gelten.

Außerdem erklärten wir bei der Einführung des PEPP, dass wir bei Bedarf vom Kapitalschlüssel abweichen können. Diese Botschaft ist bei den Märkten angekommen.

Und das TPI?

In Bezug auf das TPI möchte ich meine Rolle nicht überbewerten. Es wurde allerdings unter außergewöhnlichen Umständen geboren, denn wir standen unter Zeitdruck. Wir hatten einige Veränderungen des Spreads zwischen italienischen Staatsanleihen und deutschen Bundesanleihen beobachtet, die nicht auf Fundamentaldaten zurückzuführen waren. Daher begannen wir, an diesen Fragen zu arbeiten. Ich persönlich habe in einem fensterlosen und dunklen Kellerraum eines Hotels in London an der endgültigen Lösung mitgewirkt.

Damals standen uns WebEx, Zoom, Teams und andere Tools zur Verfügung, die es bei der Einführung des PEPP noch nicht gegeben hatte. Das PEPP habe ich zusammen mit meinen Kollegen aus dem EZB-Rat in einer Telefonkonferenz beschlossen, die ich von meiner Küche aus leitete. Damals hatten wir lediglich iPhones und iPads, auf denen wir die Dokumente anschauten. Fabio Panetta, der damals Mitglied des Direktoriums war und in der Nähe wohnte, kam zu mir nach Hause und brachte etwas Kuchen mit, weil er mit einer anstrengenden Nacht rechnete. Und der Kuchen reichte bis 4 Uhr morgens. Aber als ich das Treffen zum TPI einberief, war ich gerade wegen einer Veranstaltung in London. Ich hatte in meinem Hotelzimmer keinen Empfang und fragte: „Kann ich nach unten gehen?“ Das Hotelpersonal sagte mir: „Ja, dort findet aber eine Jahrestagung statt.“ Ich meinte: „Das ist nicht gerade ideal, ich brauche etwas mehr Privatsphäre.“ Und so landete ich im Keller – in einem dunklen Raum, in dem ein Monitor installiert wurde.

Auf der einen Seite haben wir elf von zwanzig Ländern, die kurz davorstehen, die neuen Haushaltsregeln der EU zu brechen. Auf der anderen Seite haben wir Deutschland, das sich an die Schuldenbremse klammert, Investitionen zurückhält und auf diese Weise das Wachstum dämpft. Welche Seite bereitet Ihnen größere Sorgen?

Meine Sorge gilt der tatsächlichen Umsetzung und Einhaltung der Rahmenbestimmungen, die unter großen Mühen vereinbart wurden. Alle kleinen Mitgliedstaaten erinnern sich noch lebhaft an frühere Zeiten, in denen sich die großen Mitgliedstaaten über die Regeln hinwegsetzten. Ich hoffe sehr, dass alle Mitgliedstaaten, ob groß oder klein, sich an die Spielregeln halten. Denn das ist die Grundlage.

Sollte Deutschland mehr tun, um das Wachstum im Euroraum zu unterstützen?

Es steht mir nicht zu, fiskalpolitische Empfehlungen abzugeben. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass auch in Deutschland erheblicher Investitionsbedarf besteht.

Sie haben dazu aufgerufen, die Einführung der Kapitalmarktunion zu beschleunigen. Halten Sie eine rasche Einführung für möglich? Wie kann die EZB dazu beitragen?

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Kapitalmarktunion notwendig ist. Wir müssen von der Führungsebene aus Tempo vorlegen und einen umfassenden Ansatz verfolgen. Der Europäische Rat jedenfalls drängt darauf und ist sich einig, dass es möglich werden muss, in Europa mehr Kapital aufzunehmen, und dass es dafür einheitlichere Regeln braucht. Und es herrscht Einvernehmen darüber, dass wir einen Großteil der Ersparnisse Europas auch in Europa halten müssen. Es ist auch Konsens, dass in Europa sehr umfangreiche Investitionen erforderlich sind. Darauf hat Enrico Letta in seinem Bericht hingewiesen, und auch Mario Draghi wird sich entsprechend äußern. Eine Voraussetzung hierfür ist eine einheitliche Aufsicht. Ein einheitliches Regelwerk ist unabdingbar, und wir brauchen eine einheitliche Infrastruktur für den Nachhandel – all dies ist notwendig. Wir werden uns nach Kräften bemühen, zu helfen. Es liegt nicht in unserer direkten Verantwortung – wir sind für Preisstabilität zuständig. Aber wenn es mit vereinten Kräften besser vorangeht, werden wir dazu beitragen.

Halten Sie das für ausreichend? Es gibt gemeinsame Analysewerkzeuge, einige vorbereitete Tools und eine gewisse Dynamik. Aber gibt es auch etwas, das in den nächsten Monaten und nicht erst Jahren umgesetzt werden könnte?

Innerhalb von Monaten? Das glaube ich nicht, denn ein einheitliches Regelwerk braucht Zeit. Es geht jetzt darum, die Dynamik aufrechtzuerhalten. Ein überarbeitetes Regelwerk für Verbriefungen könnte ein guter Anfang sein.

Wenn es auf diesem Gebiet keine Schnellverfahren gibt, bräuchten wir dann also die Neuauflage Next Generation EU (NGEU) 2.0 im Anschluss an das laufende Konjunkturprogramm der EU über das Jahr 2026 hinaus?

Diese Frage hat eine politische Dimension und fällt damit in einen Bereich, für den ich nicht zuständig bin.

Ist NGEU in Ihren Augen ein Erfolg? Manche sehen beim US-Gesetz zur Verringerung der Inflationsrate IRA eine starke praktische Wirkung, nicht aber bei NGEU.

Das werden wir 2026 beurteilen können. Bislang wurde nur ein kleiner Teil der NGEU-Mittel freigegeben. Zwei Fragen werden entscheidend sein. Die erste lautet: Was wurde bis Ende 2026 geschafft? Die zweite betrifft die internen Ressourcen, über die gemeinsam entschieden und die zurückgezahlt werden müssen. Dies sollte möglichst bald besprochen werden. NGEU besteht zum Teil aus Finanzhilfen und zum Teil aus Darlehen, die zurückgezahlt werden müssen. Die Einzelheiten für Letztere sind noch nicht abschließend geklärt. Das Programm ist sicherlich hilfreich. Und unter Governance-Gesichtspunkten war es ein Wendepunkt. Aber ob es Erfolg war, bleibt abzuwarten.

Es kommt selten vor, dass die EZB die Leitzinsen vor der Federal Reserve senkt. Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die Bedeutung Ihrer Beschlüsse von letzter Woche?

Es kam auch früher schon vor, dass die EZB und die Federal Reserve nicht im Gleichschritt vorgingen. Wir müssen auf Grundlage unserer jeweiligen Mandate handeln, und zurzeit unterscheiden sich unsere Fundamentaldaten. Nehmen Sie die Wirtschaftstätigkeit und den Arbeitsmarkt. In den USA hat die Konjunktur stärker angezogen. Die Nachfrage ist dort größer und hat die Inflation weitaus stärker befeuert als im Euroraum. Auch der Arbeitsmarkt stellt sich in den USA anders dar als bei uns, er dürfte angespannter sein. Wir müssen uns nach der Lage unserer jeweiligen Volkswirtschaften richten. Dabei berücksichtigen wir natürlich auch Ansteckungseffekte.

Bislang wurde noch kein Nachfolger bzw. keine Nachfolgerin für den Präsidenten der spanischen Nationalbank Pablo Hernández de Cos ernannt. Sind Sie darüber beunruhigt? Möglicherweise wird sein Amt von einer Frau übernommen. Das wäre ein echter Fortschritt, denn dann würde schon die zweite nationale Zentralbank im Euroraum von einer Frau geführt.

Pablo ist mit Leib und Seele Teamplayer und ein großartiger Mensch. Ich nenne ihn „Caballero“. Er wird uns allen fehlen, auch mir. Als Ökonom und Zentralbankpräsident zeichnet er sich durch große Sorgfalt aus, und als Teamplayer konnte man sich auf ihn verlassen. Er ist ein Mensch, mit dem man überaus gern zusammenarbeitet. Seine Beiträge zum EZB-Rat waren stets gehaltvoll, wurden dankbar aufgenommen und sehr geschätzt. Ich hoffe, dass die spanische Regierung eine Person ernennt, die Beiträge auf dem gleichen Niveau leisten wird.

Wird den Bürgerinnen und Bürger Europas ein digitaler Euro zur Verfügung stehen, wenn Sie 2027 aus dem Amt scheiden?

Vielleicht, aber dann müsste sich die Einführung beschleunigen. Wir sind nicht die einzigen, die damit befasst sind. Es hängt in hohem Maße von der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament ab, denn sie werden uns den Rechtsrahmen vorgeben, in dem ein digitaler Euro eingeführt würde. Wir arbeiten mit Hochdruck an den technischen Vorbereitungen, aber ohne den rechtlichen Rahmen kommen wir nicht zum Zuge.

Ist es das ultimative Ziel, dass die EZB einen digitalen Euro ausgibt?

Mein ultimatives Ziel ist eine Inflationsrate von 2 %. Das ist es, was mich antreibt. Aber ich möchte auch dafür sorgen, dass die EZB für die Zukunft gerüstet ist. Und wenn sich die Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger Europas weiter in Richtung Digitalisierung entwickeln, wie wir es derzeit beobachten, dann sollte auch Zentralbankgeld in digitaler Form für alle, die es verwenden möchten, zugänglich sein.

Eine letzte Frage: Wie stehen Sie zum Ausgang der Europawahlen?*

Die EZB ist eine unabhängige Zentralbank. Wir erfüllen unser Mandat unabhängig vom Ausgang politischer Wahlen. Wir werden gern mit dem neu gewählten Europäischen Parlament zusammenarbeiten.

*Diese Frage und die zugehörige Antwort wurden nach der Europawahl in das Interview aufgenommen.

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