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Arbeitslosigkeit im Euro-Währungsgebiet

Rede von Mario Draghi, Präsident der EZB, anlässlich der jährlichen Notenbankkonferenz in Jackson Hole, 22. August 2014

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Zusammenfassung

Eine hohe Arbeitslosigkeit wirkt sich auf jeden in der Gesellschaft aus. Für Zentralbanken steht sie im Zentrum der gesamtwirtschaftlichen Dynamik, von der die Inflation bestimmt wird, und selbst, wenn keine Risiken für die Preisstabilität vorhanden sind, erhöht sie den Handlungsdruck auf uns Notenbanker. Die entscheidende Frage ist jedoch, inwieweit wir die Arbeitslosigkeit tatsächlich nachhaltig beeinflussen können. Dies hängt davon ab, ob ihr in erster Linie konjunkturelle oder strukturelle Faktoren zugrunde liegen.

Verantwortlich für die Arbeitslosigkeit im Euro-Währungsgebiet war ein schwerwiegender und besonders lang anhaltender negativer Schock auf das BIP: zunächst aufgrund der tiefgreifenden Rezession, die sich auf alle fortgeschrittenen Volkswirtschaften auswirkte, und dann aufgrund der Staatsschuldenkrise, die vor allem in Ländern, die von finanziellen Spannungen betroffen waren, zu Arbeitsplatzverlusten führte. Infolge der Staatsschuldenkrise wurden unter anderem die Instrumente zur makroökonomischen Stabilisierung in ihrer Funktionsfähigkeit eingeschränkt, da sich die Haushaltspolitik neu ausrichten und darauf konzentrieren musste, die Investoren von der Schuldentragfähigkeit zu überzeugen. Außerdem kam es zu Störungen der geldpolitischen Transmission.

Konjunkturelle Faktoren haben daher beim Anstieg der Arbeitslosigkeit eine wichtige Rolle gespielt, und die schwache wirtschaftliche Lage im Euroraum deutet darauf hin, dass sie auch weiterhin von Bedeutung sind. Zugleich gibt es Hinweise darauf, dass ein beträchtlicher Teil der Arbeitslosigkeit strukturbedingt ist. Hierfür sprechen der Verlauf der Langzeitarbeitslosigkeit und das Auseinanderklaffen von Qualifikationsangebot und -nachfrage.

Eindeutige Schlussfolgerungen zum Umfang der strukturellen Arbeitslosigkeit im Eurogebiet lassen sich jedoch nur schwer ziehen, da die Schätzverfahren mit Unsicherheit behaftet sind. Außerdem besteht in den Ländern eine große Heterogenität, was die Ausgangsbedingungen und die Art der Wechselwirkungen zwischen Nachfrageschocks und Arbeitsmarktinstitutionen betrifft.

Die einzige sichere Schlussfolgerung für die politischen Entscheidungsträger in diesem Umfeld lautet: Sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite besteht Handlungsbedarf. Maßnahmen zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage müssen mit strukturpolitischen Maßnahmen auf nationaler Ebene einhergehen.

Nachfrageseitige Maßnahmen sind nicht nur aufgrund der beträchtlichen konjunkturellen Komponente der Arbeitslosigkeit gerechtfertigt. Angesichts der herrschenden Unsicherheit sind sie auch deshalb von Bedeutung, weil es gefährlicher ist, zu wenig zu tun und damit zu riskieren, dass sich konjunkturbedingte in strukturbedingte Arbeitslosigkeit wandelt, als zu viel zu tun und damit unter Umständen einen übermäßigen Lohn- und Preisauftrieb zu bewirken.

Gleichwohl sind Maßnahmen zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage letztendlich wirkungslos, wenn nicht parallel dazu auf der Angebotsseite gehandelt wird. Die fortgeschrittenen Volkswirtschaften haben es mit einer Reihe von Ausgangsbedingungen zu tun, darunter eine niedrige Inflation, niedrige Zinssätze und ein erheblicher Schuldenüberhang. Vor diesem Hintergrund sind strukturpolitische Maßnahmen erforderlich, um einem höheren Potenzialwachstum Vorschub zu leisten und es der Haushalts- und der Geldpolitik über den Konjunkturzyklus hinweg zu ermöglichen, wieder eine stärkere Dynamik zu entwickeln.

Auf der Nachfrageseite kann und sollte die Geldpolitik eine zentrale Rolle spielen. Das von der EZB im Juni angekündigte Maßnahmenpaket dürfte den beabsichtigten Nachfrageschub bewirken, und wir sind bereit, unseren geldpolitischen Kurs weiter anzupassen. Der EZB-Rat nimmt zur Kenntnis, dass sich die Inflation auf einem abwärtsgerichteten Pfad befindet, und würde auch auf unkonventionelle Instrumente zurückgreifen, um die feste Verankerung der Inflationserwartungen auf mittlere bis lange Sicht zu gewährleisten.

Für die allgemeine Ausrichtung der Politik wäre es dennoch vorteilhaft, wenn der Haushaltspolitik neben der Geldpolitik eine größere Rolle zukäme. Der Euroraum hat darunter gelitten, dass die Haushaltspolitik weniger effektiv und verfügbar war, insbesondere im Vergleich zur Situation in anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Zentralbanken dort als Sicherungsinstanz für die staatliche Finanzierung einspringen konnten und auch tatsächlich einsprangen. Unter Berücksichtigung unserer spezifischen Ausgangsbedingungen und der rechtlichen Beschränkungen sind vier zentrale Punkte zu nennen.

Erstens könnte die bestehende Flexibilität des Regelwerks dazu genutzt werden, der schwachen Erholung entgegenzuwirken und Spielraum für die Kosten der erforderlichen Strukturreformen zu schaffen. Zweitens ist eine wachstumsfreundlichere Zusammensetzung der Haushaltspolitik möglich, z. B. durch eine haushaltsneutrale Verringerung der Steuerbelastung. Drittens sollte durch eine stärkere Koordinierung der verschiedenen nationalen Haushaltspolitiken grundsätzlich ein wachstumsfreundlicherer finanzpolitischer Kurs im Eurogebiet insgesamt begünstigt werden. Viertens scheinen auch Begleitmaßnahmen auf EU-Ebene erforderlich, um auf aggregierter Ebene eine angemessene Haushaltsposition und ein umfangreiches öffentliches Investitionsprogramm zu gewährleisten.

Allerdings kann eine finanz- oder geldpolitische Akkommodierung nie Ersatz für Strukturreformen sein. Bereits vor der Krise war die strukturelle Arbeitslosigkeit im Euroraum sehr hoch. Die nationalen Strukturreformen zur Lösung dieses Problems können nicht länger aufgeschoben werden.

Priorität haben in diesem Zusammenhang zwei Arten von Arbeitsmarktmaßnahmen: Zum einen Maßnahmen, die Arbeitskräften die rasche Wiederaufnahme von Beschäftigungsmöglichkeiten erleichtern und so die Dauer der Arbeitslosigkeit verringern, und zum anderen Maßnahmen, die die Qualifikationsintensität der Arbeitskräfte erhöhen, was aufgrund der demografischen Aussichten auch für das Potenzialwachstum sehr wichtig ist.

Kurz gesagt, der Weg zurück zu einer höheren Beschäftigung besteht in einem Policy-Mix, der geld-, finanz- und strukturpolitische Maßnahmen umfasst. Hierzu bedarf es einer kohärenten Strategie auf Ebene der Union und auf nationaler Ebene. So wird es jedem Mitglied unserer Gemeinschaft ermöglicht, ein anhaltend hohes Beschäftigungsniveau zu erreichen.

Unsere Währungsunion steht vor einer gewaltigen Herausforderung. Ohne dauerhafte länderübergreifende Transfers ist es für den langfristigen Zusammenhalt im Euroraum von zentraler Bedeutung, dass das Beschäftigungsniveau in jedem Land hoch ist. Angesichts der sehr hohen Kosten im Falle einer Gefährdung des Zusammenhalts der Union sollten alle Länder ein Interesse daran haben, dieses Ziel zu erreichen.

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Niemand in einer Gesellschaft bleibt von den Folgen hoher Arbeitslosigkeit unberührt. Für die Arbeitslosen selbst ist sie oft ein tragischer Einschnitt, der sich dauerhaft auf das Lebenseinkommen auswirkt. Für die Erwerbstätigen erhöht sich die Arbeitsplatzunsicherheit, und der soziale Zusammenhalt wird untergraben. Für die Regierungen bedeutet sie eine Belastung der öffentlichen Finanzen und ein potenziell schlechteres Abschneiden bei Wahlen. Darüber hinaus steht die Arbeitslosigkeit im Zentrum der gesamtwirtschaftlichen Dynamik, von der die kurz- und mittelfristige Inflation bestimmt wird, d. h., sie betrifft auch die Zentralbanken. Selbst wenn keine Risiken für die Preisstabilität vorhanden sind, es aber zu einer hohen Arbeitslosigkeit kommt und der soziale Zusammenhalt gefährdet ist, nimmt der Handlungsdruck auf die Zentralbank unweigerlich zu.

1. Gründe für die Arbeitslosigkeit im Euro-Währungsgebiet

Die entscheidende Frage ist aber, inwieweit wir die Arbeitslosigkeit tatsächlich nachhaltig beeinflussen können, was wiederum damit zusammenhängt – wie im Rahmen dieser Konferenz bereits ausführlich diskutiert –, ob ihr in erster Linie konjunkturelle oder strukturelle Faktoren zugrunde liegen. Da es sich beim Euroraum um eine Währungsunion aus 18 Mitgliedsländern handelt, ist die Antwort auf diese Frage notwendigerweise komplex. Lassen sie mich dennoch kurz darlegen, wie die EZB die Situation derzeit einschätzt.

Abbildung 1: Entwicklung der Arbeitslosenquote seit 2008 – Euro-Währungsgebiet und Vereinigte Staaten

Abbildung 1: Entwicklung der Arbeitslosenquote seit 2008 – Euro-Währungsgebiet und Vereinigte Staaten

Die lange Rezession im Euro-Währungsgebiet

Als erstes ist anzumerken, dass das BIP im Euroraum einem heftigen und besonders lang anhaltenden negativen Schock ausgesetzt war, was weitreichende Konsequenzen für die Beschäftigung hatte. Dies lässt sich an der Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Eurogebiet und in den Vereinigten Staaten ablesen, die in Abbildung 1 für den Zeitraum ab 2008 dargestellt ist. In den USA zog die Arbeitslosigkeit im Gefolge der Großen Rezession sofort deutlich an, während im Euroraum im Zusammenhang mit zwei aufeinanderfolgenden Rezessionen zwei Mal ein Anstieg zu verzeichnen war.

Von Anfang 2008 bis zum Jahresbeginn 2011 ähnelt sich die Entwicklung in den beiden Wirtschaftsräumen: Die Arbeitslosenquoten nehmen zunächst rasch zu, stabilisieren sich dann und beginnen schließlich wieder allmählich zu sinken. Der Grund hierfür liegt in den gemeinsamen Ursachen des Schocks: dem Gleichlauf des Finanzzyklus in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften, dem Rückgang des Welthandels nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers sowie einer damit einhergehenden deutlichen Korrektur der Vermögenspreise – vor allem der Wohnimmobilienpreise – in einigen Ländern.

Ab 2011 jedoch läuft die Entwicklung in den beiden Wirtschaftsräumen auseinander. In den USA verringert sich die Arbeitslosigkeit weiterhin in mehr oder weniger unvermindertem Tempo.[ 1] Im Euroraum hingegen zieht sie erneut an und erreicht erst im April 2013 ihren Höhepunkt. Diese abweichende Entwicklung ist auf einen – aus der Staatsschuldenkrise resultierenden – zweiten euroraumspezifischen Schock zurückzuführen, der zu einer sechs Quartale anhaltenden Rezession im Eurogebiet führte. Anders als beim Schock nach der Lehman-Insolvenz, von dem alle Volkswirtschaften im Euroraum betroffen waren, konzentrierten sich die Arbeitsplatzverluste in dieser zweiten Phase nahezu vollständig auf Länder, die durch Spannungen an den Staatsanleihemärkten in Mitleidenschaft gezogen wurden (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Zusammenhang zwischen finanziellen Spannungen und Arbeitslosigkeit

Abbildung 2: Zusammenhang zwischen finanziellen Spannungen und Arbeitslosigkeit

Die Staatsschuldenkrise entfaltete ihre Wirkung über eine Reihe von Kanälen. Eine der wichtigsten Folgen bestand jedoch darin, dass die Instrumente zur makroökonomischen Stabilisierung in ihrer Funktionsfähigkeit teilweise eingeschränkt wurden.

Was die Finanzpolitik betrifft, so leisteten die nicht marktbestimmten Dienstleistungen – darunter öffentliche Verwaltung, Erziehung und Unterricht sowie Gesundheitswesen – in der ersten Phase der Krise in praktisch allen Ländern einen beschäftigungsfördernden Beitrag und dämpften so etwas die Auswirkungen des Schocks. In der zweiten Phase war die Finanzpolitik jedoch in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Verantwortlich hierfür waren Bedenken in Bezug auf die Schuldentragfähigkeit und einen fehlenden gemeinsamen Sicherungsmechanismus, insbesondere vor dem Hintergrund beginnender Diskussionen über staatliche Umschuldungen. Die notwendige Haushaltskonsolidierung musste vorgezogen werden, um das Anlegervertrauen wiederherzustellen. Die Folgen waren ein Fiscal Drag und ein Rückgang der Beschäftigung im öffentlichen Sektor, der die bereits vorhandene Abnahme der Beschäftigung in den anderen Sektoren noch verstärkte.

Der Druck an den Staatsanleihemärkten führte auch dazu, dass die homogene Transmission der Geldpolitik im gesamten Eurogebiet beeinträchtigt wurde. Trotz des sehr niedrigen Leitzinsniveaus nahmen die Kapitalkosten in den finanziell angeschlagenen Ländern in diesem Zeitraum zu, sodass es im Ergebnis zu einer gleichzeitigen Straffung der Geld- und der Finanzpolitik kam. Ein wichtiger Fokus unserer Geldpolitik in diesem Zeitraum war es – und ist es nach wie vor –, den geldpolitischen Transmissionsmechanismus wiederherzustellen. Es ist nicht leicht, einen klaren Zusammenhang zwischen diesen Störungen und der Entwicklung der Arbeitslosigkeit herzustellen. Von Experten der EZB erstellte Schätzungen zur Kreditlücke finanziell angeschlagener Länder – d. h. zur Differenz zwischen den tatsächlichen und den normalen Kreditvolumina bei Abwesenheit krisenbedingter Effekte – deuten allerdings darauf hin, dass sich die Kreditangebotsbedingungen deutlich wachstumshemmend auswirken.[ 2]

Konjunkturelle und strukturelle Faktoren

Konjunkturelle Faktoren haben also definitiv zum Anstieg der Arbeitslosigkeit beigetragen, und die wirtschaftliche Lage im Euroraum lässt darauf schließen, dass sie noch immer eine Rolle spielen. Die jüngsten Daten zum BIP bestätigen die Einschätzung, dass die Erholung im Eurogebiet allgemein schwach ausfällt. Selbst in finanziell soliden Ländern lässt das verhaltene Lohnwachstum auf eine geringe Nachfrage schließen. Unter diesen Umständen scheint es wahrscheinlich, dass die Unsicherheit in Bezug auf die Stärke der Erholung die Unternehmensinvestitionen belastet und es länger dauert, bis Arbeitskräfte wieder eingestellt werden.

Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass zumindest in einigen Ländern ein großer Teil der Arbeitslosigkeit strukturbedingt ist.

Die Beveridge-Kurve für das Eurogebiet beispielsweise – die die Entwicklung der Arbeitslosigkeit bei einer gegebenen Arbeitsnachfrage (oder einer bestimmten Zahl offener Stellen) abbildet – deutet darauf hin, dass es an den Arbeitsmärkten im Euroraum zu einem strukturellen Mismatch kommt (siehe Abbildung 3). In der ersten Phase der Krise führte eine stark rückläufige Arbeitsnachfrage zu einem kräftigen Anstieg der Arbeitslosigkeit im Eurogebiet, sodass die Beveridge-Kurve einen fallenden Verlauf aufwies. Die zweite Rezessionsphase führte jedoch dazu, dass die Arbeitslosenquote erneut deutlich anzog, obwohl bei den kumulierten Vakanzquoten klare Anzeichen einer Besserung zu erkennen waren. Dies könnte auf eine langfristigere Verschiebung der Beveridge-Kurve nach außen hindeuten.

Abbildung 3: Entwicklung der Beveridge-Kurve des Euro-Währungsgebiets im Verlauf der Krise

Abbildung 3: Entwicklung der Beveridge-Kurve des Euro-Währungsgebiets im Verlauf der Krise

Diese Verschiebung der Beveridge-Kurve erklärt sich unter anderem durch die massive Arbeitsplatzvernichtung in einigen Ländern, die zu einer niedrigeren Quote der erfolgreichen Arbeitssuche, längeren Phasen der Arbeitslosigkeit und einem höheren Anteil der Langzeitarbeitslosigkeit führte. Dahinter steht vor allem eine spürbare Verkleinerung des zuvor aufgeblähten Baugewerbes (Abbildung 4), was – im Einklang mit den Erfahrungen in den Vereinigten Staaten – in der Regel die Effizienz der Ausgleichsprozesse verringert.[ 3] Gegen Ende 2013 machten die Langzeitarbeitslosen (d. h. Personen, die ein Jahr oder länger arbeitslos sind) über 6 % der Arbeitskräfte im Eurogebiet insgesamt aus, womit sich ihre Zahl gegenüber dem Vorkrisenniveau mehr als verdoppelt hat.

Abbildung 4: Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Euro-Währungsgebiet nach Sektoren und Bildungsstand

Abbildung 4: Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Euro-Währungsgebiet nach Sektoren und Bildungsstand

Ein weiterer wichtiger Erklärungsfaktor dürften die fehlenden Wiederbeschäftigungsmöglichkeiten für freigesetzte gering qualifizierte Arbeitskräfte sein. Dies zeigt sich an der zunehmenden Kluft zwischen der Qualifikation der Arbeitskräfte und den von den Arbeitgebern verlangten Qualifikationen. Die Analyse der Entwicklung des qualifikatorischen Mismatches[ 4] deutet auf ein zunehmendes Auseinanderklaffen auf Ebene der Regionen, der Länder und des Eurogebiets hin (Abbildung 5). Abbildung 5 zeigt, dass sich der Beschäftigungsverlust im Euroraum vor allem auf den Bereich der gering qualifizierten Arbeitskräfte konzentriert.

Abbildung 5: Indizes des qualifikatorischen Mismatches für das Euro-Währungsgebiet

Abbildung 5: Indizes des qualifikatorischen Mismatches für das Euro-Währungsgebiet

Insgesamt lassen Schätzungen internationaler Organisationen – und zwar in erster Linie Schätzungen der Europäische Kommission, der OECD und des IWF – einen aus der Krise resultierenden Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit im Euroraum erkennen. Während sie 2008 im Durchschnitt (der drei Institutionen) noch bei 8,8 % gelegen hatte, belief sie sich 2013 auf 10,3 %.[ 5]

Differenzierung des Lagebilds

Es sind jedoch zwei wichtige Einschränkungen zu machen.

Zum einen sind Schätzungen der strukturellen Arbeitslosigkeit mit einer erheblichen Unsicherheit behaftet, vor allem wenn sie in Echtzeit erfolgen. So deuten Untersuchungen der Europäischen Kommission darauf hin, dass Schätzungen der lohninflationsstabilen Arbeitslosenquote, der Non-Accelerating Wage Rate of Unemployment – kurz NAWRU, den Umfang der strukturbedingten Arbeitslosigkeit in der aktuellen Situation überzeichnen dürften, was vor allem für die am stärksten von der Krise in Mitleidenschaft gezogenen Länder gilt.[ 6]

Zum anderen verbergen sich hinter den aggregierten Daten sehr unterschiedliche Entwicklungen. Bei der aktuellen Arbeitslosenquote von 11,5 % für den Euroraum handelt es sich um den (gewichteten) Durchschnitt von Arbeitslosenquoten in Höhe von rund 5 % in Deutschland und 25 % in Spanien. Auch in struktureller Hinsicht unterscheidet sich die Entwicklung: So zeigt die Analyse der Beveridge-Kurve auf Länderebene beispielsweise für Deutschland eine deutliche Verschiebung der Kurve nach innen, während für Frankreich, Italien und insbesondere für Spanien eine Verschiebung nach außen zu erkennen ist.

Diese Heterogenität hängt mit den verschiedenen Ausgangsbedingungen zusammen, wie beispielsweise einer unterschiedlichen sektoralen Zusammensetzung der Arbeitslosigkeit (insbesondere was den Anteil der Beschäftigten im Baugewerbe betrifft). Außerdem spiegelt sie die Tatsache wider, dass die Arbeitslosenquoten historisch gesehen in einigen Euro-Ländern durchweg höher gewesen sind als in anderen.[ 7] In der Heterogenität kommt aber auch der Zusammenhang zwischen Arbeitsmarktinstitutionen und Auswirkungen von Schocks auf die Beschäftigung zum Ausdruck.[ 8] Die Volkswirtschaften, die in puncto Beschäftigung am besten durch die Krise gekommen sind, weisen in der Regel eine höhere Arbeitsmarktflexibilität auf und können sich so an die Wirtschaftslage anpassen.

Die in Deutschland während der Krise beobachtete Verschiebung der Beveridge-Kurve nach innen folgte einem Trend, der bereits Mitte des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts nach Einführung der Hartz-Arbeitsmarktreformen einsetzte. Die vergleichsweise dynamischere Beschäftigungsentwicklung in Deutschland ist auch dem Umstand geschuldet, dass den Unternehmen relativ kostengünstige Möglichkeiten zur Verfügung standen, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter zu verringern (d. h. die Lohn- und Einkommensvariation). Hierzu zählten der Abbau von Überstunden, eine größere Arbeitszeitflexibilität auf Unternehmensebene und eine umfangreiche Inanspruchnahme von Kurzarbeitsregelungen.[ 9]

Selbst in der Gruppe der Länder, die am stärksten von der Staatsschuldenkrise betroffen waren, lässt sich ein unterschiedlicher Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen auf die Beschäftigung beobachten. Beispielsweise kam es sowohl in Irland als auch in Spanien zu einer erheblichen Vernichtung von Arbeitsplätzen im Baugewerbe nach dem Lehman-Schock. Während der darauf folgenden Staatsschuldenkrise stellte sich die Entwicklung in den beiden Ländern jedoch recht unterschiedlich dar. In Irland stabilisierte sich die Arbeitslosigkeit und ging anschließend zurück. In Spanien hingegen nahm sie bis Januar 2013 zu (Abbildung 6). Schätzungen zufolge hat die strukturelle Arbeitslosigkeit in Irland von 2011 bis 2013 um rund 0,5 Prozentpunkte angezogen, während sie sich in Spanien um mehr als 2,5 Prozentpunkte erhöhte.[ 10]

Diese divergierende Entwicklung lässt sich zum Teil mit Unterschieden in der Nettozuwanderung erklären. Sie ist aber auch darauf zurückzuführen, dass Irland bei Ausbruch der Krise über einen relativ flexiblen Arbeitsmarkt verfügte und im Rahmen des EU/IWF-Programms ab November 2010 weitere Arbeitsmarktreformen in Gang setzte. In Spanien hingegen bestanden zu Beginn der Krise starke Arbeitsmarktrigiditäten. Gezielte Reformen wurden erst 2012 in Angriff genommen.

Zudem wurde die Anpassungsfähigkeit spanischer Unternehmen an die neuen wirtschaftlichen Bedingungen bis zu diesem Zeitpunkt durch branchenspezifische und regionale Tarifvereinbarungen und die Lohnindexierung beeinträchtigt. Umfrageergebnissen zufolge war Spanien eines der Länder, in dem die Lohnindexierung häufiger zum Einsatz kam – und zwar in rund 70 % der Unternehmen.[ 11] Folglich nahm das nominale Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer in Spanien bis zum dritten Quartal 2011 weiter zu, wie aus Abbildung 6 hervorgeht, obwohl die Arbeitslosigkeit im gleichen Zeitraum um mehr als 12 Prozentpunkte stieg. In Irland hingegen begann bereits im Schlussquartal 2008 eine Abwärtskorrektur der Löhne, die sich zudem in einem schnelleren Tempo vollzog.

Im Ergebnis kam es am irischen Arbeitsmarkt zu einer gewissen Anpassung über die Preise, während die Anpassung am Arbeitsmarkt in Spanien in erster Linie mengenbasiert war: Unternehmen mussten ihre Arbeitskosten über den Abbau von Arbeitsplätzen verringern. Aufgrund der Spaltung des spanischen Arbeitsmarkts waren vor allem Arbeitskräfte von den Anpassungen betroffen, die einen geringeren Schutz genießen, also Arbeitnehmer mit befristeten Arbeitsverträgen. Befristete Arbeitsverhältnisse waren in Spanien im Vorfeld der Krise besonders weit verbreitet. Sie machten rund ein Drittel aller Arbeitsverträge aus.[ 12]

In Spanien, wie auch in anderen finanziell angeschlagenen Ländern, wurde seitdem einigen dieser Arbeitsmarktrigiditäten durch Strukturreformen begegnet, die sich positiv auswirkten. Schätzungen der OECD zufolge hat sich beispielsweise nach der Arbeitsmarktreform 2012 in Spanien der Übergang von der Arbeitslosigkeit in die Wiederbeschäftigung – unabhängig von der Dauer der Arbeitslosigkeit – verbessert.[ 13]

Abbildung 6: Entwicklung von Arbeitslosigkeit und nominalem Arbeitnehmerentgelt in Irland und Spanien

Abbildung 6: Entwicklung von Arbeitslosigkeit und nominalem Arbeitnehmerentgelt in Irland und Spanien

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Arbeitslosigkeit im Eurogebiet von relativ komplexen Wechselwirkungen geprägt ist. In den einzelnen Ländern kam es zu differenzierten Nachfrageschocks. Diese Schocks und die Ausgangsbedingungen sowie die nationalen Arbeitsmarktinstitutionen haben sich gegenseitig auf unterschiedliche Weise beeinflusst, und dieses Zusammenspiel der Faktoren hat sich durch die Einführung neuer Reformen verändert. Deshalb müssen Schätzungen zum Grad der konjunkturbedingten und der strukturellen Arbeitslosigkeit mit einiger Vorsicht erfolgen. Es ist aber klar, dass eine solche Heterogenität der Arbeitsmarktinstitutionen eine Quelle der Fragilität für die Währungsunion ist.

2. Reaktion auf hohe Arbeitslosigkeit

Welche Schlüsse können wir als politische Entscheidungsträger also daraus ziehen? Die einzige sichere Schlussfolgerung, die sich meines Erachtens für uns ergibt, lautet: Sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite der Wirtschaft besteht Handlungsbedarf. Maßnahmen zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage müssen mit strukturpolitischen Maßnahmen auf nationaler Ebene einhergehen.

Nachfrageseitige Maßnahmen sind nicht nur aufgrund der beträchtlichen konjunkturellen Komponente der Arbeitslosigkeit gerechtfertigt. Sie sind auch deshalb von Belang, weil sie angesichts der herrschenden Unsicherheit mit davor schützen, dass eine schwache Wirtschaft zu Hysterese-Effekten beiträgt. Unter normalen Bedingungen würde Unsicherheit zwar aus Angst vor überschießenden Reaktionen eher zu vorsichtigerem Handeln führen, doch die gegenwärtige Situation ist anders. Zu wenig zu tun und damit zu riskieren, dass sich konjunkturbedingte Arbeitslosigkeit zu struktureller entwickelt, ist gefährlicher, als zu viel zu tun und damit unter Umständen einen übermäßigen Lohn- und Preisauftrieb zu bewirken.

Gleichwohl sind derartige Maßnahmen zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage letztendlich wirkungslos, wenn nicht parallel dazu auf der Angebotsseite gehandelt wird. Wie alle fortgeschrittenen Volkswirtschaften haben wir es mit Ausgangsbedingungen zu tun, die vom letzten Finanzzyklus bestimmt sind. Dabei handelt es sich um eine geringe Inflation, niedrige Zinssätze und einen hohen Schuldenüberhang im privaten und öffentlichen Sektor. Unter diesen Umständen besteht aufgrund des durch die Nullzinsgrenze begrenzten Handlungsspielraums die reale Gefahr, dass die Geldpolitik in ihrer Fähigkeit zur Erzeugung gesamtwirtschaftlicher Nachfrage eingeschränkt wird. Auch der Schuldenüberhang führt unvermeidlich zu einem geringeren finanzpolitischen Handlungsspielraum.

Für ein höheres Niveau und eine höhere Trendrate des Potenzialwachstums und damit auch mehr Staatseinnahmen zu sorgen, kann vor diesem Hintergrund dazu beitragen, wieder mehr Spielraum zu gewinnen, und beiden Politikbereichen über den Konjunkturzyklus hinweg zu mehr Dynamik verhelfen. Die Senkung der strukturellen Arbeitslosigkeit und die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung sind ein wesentlicher Bestandteil dieses Handelns. Dies gilt insbesondere auch für das Eurogebiet, weil – um nur einen Übertragungskanal zu nennen – höhere Arbeitslosigkeit in bestimmten Ländern zu einem Anstieg der Kreditausfälle, anfälligeren Banken und so zu einer stärker fragmentierten Transmission der Geldpolitik führen könnte.

Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage

Auf der Nachfrageseite kann und sollte die Geldpolitik eine zentrale Rolle spielen, was gegenwärtig bedeutet, dass sie über einen längeren Zeitraum hinweg einen akkommodierenden Kurs verfolgen wird. Ich bin davon überzeugt, dass das von uns im Juni angekündigte Maßnahmenpaket tatsächlich den beabsichtigten Nachfrageschub bewirken wird, und wir sind bereit, unseren geldpolitischen Kurs weiter anzupassen.

Es sind bereits Wechselkursbewegungen festzustellen, die sowohl die Gesamtnachfrage als auch die Inflation begünstigen dürften. Wir gehen davon aus, dass sich diese Entwicklung aufgrund der divergierenden voraussichtlichen geldpolitischen Ausrichtung in den USA und im Euro-Währungsgebiet weiter fortsetzen wird (Abbildung 7). Im September werden wir unser erstes gezieltes längerfristiges Refinanzierungsgeschäft durchführen, das bei den Banken bereits auf erhebliches Interesse gestoßen ist. Zudem kommen unsere Vorbereitungen für Outright-Käufe von Asset-Backed Securities (ABS) gut voran, und wir gehen davon aus, dass dies zu einer weiteren Lockerung der Kreditbedingungen beitragen wird. Derartige Outright-Käufe würden in der Tat auf sinnvolle Weise einen Beitrag zur Diversifizierung der uns zur Liquiditätsschöpfung bereitstehenden Kanäle leisten.

Abbildung 7: Erwartete Entwicklung der Realzinsen im Euro-Währungsgebiet und in den Vereinigten Staaten

Abbildung 7: Erwartete Entwicklung der Realzinsen im Euro-Währungsgebiet und in den Vereinigten Staaten

Seit dem Sommer 2012 sinkt die Inflationsrate – von damals 2,5 % auf zuletzt 0,4 %. Ich äußere mich etwa einmal im Monat in der Pressekonferenz zu diesen Entwicklungen und habe dort verschiedene Gründe für die rückläufige Inflationsrate genannt, etwa die sinkenden Preise für Nahrungsmittel und Energie oder nach Mitte 2012 die Wechselkursaufwertung, die sich auf die Preisentwicklung auswirkte. In jüngerer Zeit sind die mit dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine verbundenen geopolitischen Risiken anzuführen, die sich ebenfalls negativ auf die Wirtschaft im Euroraum auswirken werden; hinzu kommen die relativen Preisanpassungen, die in den finanziell angeschlagenen Ländern erforderlich waren, sowie die hohe Arbeitslosigkeit.

Ich habe bereits gesagt, dass grundsätzlich die meisten dieser Effekte letzten Endes an Wirkung verlieren dürften, weil sie größtenteils, wenn auch nicht durchweg, vorübergehender Natur sind. Ich habe aber auch gesagt, dass das Risiko für die Preisstabilität steigen würde, wenn die Phase niedriger Inflation länger anhalten sollte.

Im August hat sich an den Finanzmärkten angedeutet, dass die Inflationserwartungen über alle Zeithorizonte hinweg deutlich zurückgegangen sind. Der fünfjährige Swapsatz in fünf Jahren sank um 15 Basispunkte auf knapp unter 2 % – wir verwenden dieses Maß gewöhnlich zur Bestimmung der mittelfristigen Inflation.

Betrachten wir jedoch kurz- und mittelfristige Zeithorizonte, sind noch deutlichere Veränderungen zu verzeichnen. Kurz- und mittelfristig sind die realen Sätze gestiegen, auf lange Sicht hingegen nicht, weil die langfristigen nominalen Sätze momentan nicht nur im Eurogebiet, sondern eigentlich weltweit rückläufig sind. Der EZB-Rat wird diese Entwicklungen zur Kenntnis nehmen und im Rahmen seines Mandats alle verfügbaren Instrumente nutzen, die erforderlich sind, um auf mittlere Sicht Preisstabilität zu gewährleisten.

Kommen wir zur Haushaltspolitik: Seit 2010 leidet der Euroraum darunter, dass die Haushaltspolitik weniger verfügbar und effektiv ist, vor allem im Vergleich zu anderen großen fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Das liegt nicht so sehr an den hohen anfänglichen Schuldenquoten, denn der öffentliche Schuldenstand ist insgesamt im Eurogebiet nicht höher als in den USA oder in Japan. Vielmehr konnten die Zentralbanken in diesen Ländern als Sicherungsinstanz für die staatliche Finanzierung einspringen und taten dies auch, was ein wesentlicher Grund dafür ist, dass den Finanzbehörden dieser Länder der Vertrauensverlust an den Märkten erspart blieb, der vielen Staaten des Euroraums den Marktzugang erschwerte. Dies wiederum ermöglichte es den USA und Japan, ihre Haushaltskonsolidierung zunächst zurückzustellen.

Für die allgemeine Ausrichtung der Politik wäre es deshalb hilfreich, wenn der Haushaltspolitik neben der Geldpolitik unter Berücksichtigung unserer spezifischen Ausgangsbedingungen und der rechtlichen Beschränkungen eine größere Rolle zukommen könnte, und ich denke, dass hier Handlungsspielraum vorhanden ist. Zu den spezifischen Ausgangsbedingungen zählen die Staatsausgaben und die Steuerlast im Eurogebiet, die gemessen am BIP bereits einen der weltweit höchsten Stände aufweisen. Und wir bewegen uns innerhalb eines haushaltspolitischen Rahmens – des Stabilitäts- und Wachstumspakts –, der als Vertrauensanker fungiert, und ein Bruch dieses Rahmens wäre kontraproduktiv.

Lassen Sie mich hier vier Punkte herausgreifen.

Erstens könnte die bestehende Flexibilität des Regelwerks dazu genutzt werden, der schwachen Erholung entgegenzuwirken und die Kosten der erforderlichen Strukturreformen aufzufangen.

Zweitens gibt es Spielraum für eine wachstumsfreundlichere Ausgestaltung der haushaltspolitischen Maßnahmen. Es sollte möglich sein, als erstes die Steuerbelastung haushaltsneutral zu verringern.[ 14] Diese Strategie könnte sich auch kurzfristig positiv auswirken, wenn in Regionen mit höherem kurzfristigem fiskalischem Multiplikator die Steuern gesenkt und in unproduktiven Regionen mit niedrigerem Multiplikator Ausgaben gekürzt werden. Forschungsergebnissen zufolge lassen sich kurzfristig auch positive Zweitrundeneffekte in Bezug auf das Unternehmervertrauen und private Investitionen erzielen.[ 15]

Drittens könnte parallel hierzu eine Debatte über den finanzpolitischen Kurs im Euro-Währungsgebiet sinnvoll sein. Im Gegensatz zu anderen großen fortgeschrittenen Volkswirtschaften beruht unser finanzpolitischer Kurs nicht auf einem einzelnen Haushalt, über den ein einzelnes Parlament abgestimmt hat, sondern auf einer aggregierten Größe aus achtzehn nationalen Haushalten und dem EU-Haushalt. Eine stärkere Koordinierung der verschiedenen nationalen Haushaltspolitiken sollte grundsätzlich einen wachstumsfreundlicheren finanzpolitischen Kurs im Eurogebiet insgesamt begünstigen.

Viertens scheinen auch Begleitmaßnahmen auf EU-Ebene erforderlich, um auf aggregierter Ebene eine angemessene Haushaltsposition und ein umfangreiches öffentliches Investitionsprogramm zu gewährleisten, was auch im Einklang mit Vorschlägen des künftigen Präsidenten der Europäischen Kommission steht.[ 16]

Reform der Strukturpolitik

Keine finanz- oder geldpolitische Akkommodierung kann jedoch die notwendigen Strukturreformen im Euroraum ersetzen. Wie ich bereits ausgeführt habe, war die strukturelle Arbeitslosigkeit im Eurogebiet Schätzungen zufolge bereits vor der Krise sehr hoch (rund 9 %). Manche Untersuchungen deuten darauf hin, dass sie bereits seit den Siebzigerjahren hoch war.[ 17] Und angesichts der von mir beschriebenen Wechselwirkungen sprechen gewichtige Gründe dafür, dass nationale Strukturreformen zur Lösung dieses Problems nicht länger aufgeschoben werden können.

Diese Reformagenda betrifft die Arbeits- und Gütermärkte sowie Maßnahmen zur Verbesserung des Geschäftsumfelds. Ich beschränke mich hier auf die Arbeitsmärkte, für die mir zwei übergreifende Themen als vorrangig erscheinen.

Zum einen sind dies Maßnahmen, die Arbeitnehmern eine rasche Wiederaufnahme einer Beschäftigung ermöglichen und so die Dauer der Arbeitslosigkeit verringern. Dazu zählen Tarifverträge auf Firmenebene, die eine bessere Kopplung der Lohnentwicklung an die lokale Arbeitsmarktlage und Produktivitätsentwicklung ermöglichen, eine stärkere Lohndifferenzierung zwischen Arbeitnehmern und Sektoren, der Abbau von Rigiditäten, die der Beschäftigungsanpassung im Wege stehen, und insbesondere die Beseitigung der Arbeitsmarktspaltung sowie Reformen der Gütermärkte, die zu einer schnelleren Verlagerung von Ressourcen und Beschäftigung in produktivere Sektoren beitragen können.

Das zweite Thema betrifft Maßnahmen, die die Qualifikationsintensität der Arbeitnehmer erhöhen. Wir haben bereits gesehen, dass sich die Krise unverhältnismäßig stark auf gering qualifizierte Arbeitnehmer auswirkt, deren Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt Umschulungen erfordert. Die längerfristigen Auswirkungen der hohen Jugendarbeitslosigkeit deuten ebenfalls auf diesen Schluss hin. Die Zahl der arbeitslosen 15- bis 24-Jährigen stieg – im Verhältnis zu den Erwerbspersonen derselben Altersgruppe – von einem bereits hohen Niveau von etwa 15 % im Jahr 2007 auf 24 % im Jahr 2013. Dies hat höchstwahrscheinlich dauerhaft deutliche Spuren hinterlassen, weil den jungen Menschen der Zugang zu einem entscheidenden Schritt der praktischen Ausbildung am Arbeitsplatz nicht möglich war.

Darüber hinaus ist die Qualifikationsintensität auch für das Potenzialwachstum von großer Bedeutung. Wenngleich eine höhere Erwerbsbeteiligung immens wichtig ist, deuten die demografischen Aussichten darauf hin, dass sie immer weniger zum künftigen Potenzialwachstum beitragen wird. Ein Anstieg des Trendwachstums wird hauptsächlich durch Arbeitsproduktivitätssteigerungen zu erreichen sein. Deshalb müssen wir nach Möglichkeit dafür sorgen, dass sich die Beschäftigung in Sektoren mit hohem Wertschöpfungspotenzial und hoher Arbeitsproduktivität konzentriert, und dies ist wiederum eine Frage der Qualifikationen.

Hinzu kommt, dass wir im Euro-Währungsgebiet schon wegen unseres Gesellschaftsmodells auf dem Weltmarkt nicht allein auf Basis der Kosten mit den Schwellenländern konkurrieren können. Unser Wettbewerbsvorteil muss sich daher auf eine Kombination von Kostenwettbewerbsfähigkeit und Spezialisierung in Wirtschaftszweigen mit hohem Wertschöpfungspotenzial stützen – ein Geschäftsmodell, das Länder wie Deutschland erfolgreich verfolgt haben. Aus dieser Warte betrachtet, wird ein unzureichendes Qualifikationsniveau zu einem effektiven Anstieg der inflationsstabilen Arbeitslosenquote, der Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment – kurz NAIRU, führen, da mehr Arbeitskräfte den Bereich der Wettbewerbsfähigkeit verlassen und nicht mehr beschäftigungsfähig sind.

Beim Erreichen eines höheren Qualifikationsniveaus geht es natürlich vor allem um die Bildung, und hier kann noch einiges getan werden. Im Euroraum liegt der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter mit einem Abschluss der Sekundarstufe II oder einem tertiären Bildungsabschluss in einigen Ländern bei einem Spitzenwert von mehr als 90 %, in anderen hingegen beläuft er sich auf einen Tiefstwert von rund 40 %. Aber auch einer aktiven Arbeitsmarktpolitik kommt hier eine wichtige Rolle zu, wie beispielsweise im Bereich des lebenslangen Lernens und bei der Beseitigung von Verzerrungen wie der Arbeitsmarktspaltung. Letzteres würde unter anderem dazu beitragen, die ineffiziente Arbeitnehmerfluktuation zu verringern und mehr Anreize für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Investition in arbeitsplatzspezifische Qualifikationsmaßnahmen schaffen.

3. Fazit

Lassen Sie mich zum Schluss kommen.

Bei der Arbeitslosigkeit im Eurogebiet handelt es sich um ein komplexes Phänomen, doch die Lösung liegt eigentlich auf der Hand. Eine schlüssige Strategie zur Senkung der Arbeitslosigkeit muss sich sowohl auf nachfrage- als auch angebotsseitige Maßnahmen stützen, und zwar sowohl auf Ebene des Euroraums als auch auf Ebene der einzelnen Länder. Und nur wenn die Strategie wirklich schlüssig ist, kann sie auch Erfolg haben.

Ohne eine größere Gesamtnachfrage riskieren wir eine höhere strukturelle Arbeitslosigkeit, und es könnte dann passieren, dass die Anstrengungen von Ländern, die Strukturreformen durchführen, letztlich trotzdem zu keinem Fortschritt führen. Ohne entschlossene Strukturreformen werden jedoch Maßnahmen zur Förderung der Gesamtnachfrage schnell an Dynamik verlieren, und sie könnten letztlich an Wirksamkeit einbüßen. Mit anderen Worten besteht der Weg zurück zu einer höheren Beschäftigung in einem Policy-Mix, der geld-, finanz- und strukturpolitische Maßnahmen auf Unions- und Länderebene kombiniert. So wird es jedem Mitglied unserer Gemeinschaft ermöglicht, ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau zu erreichen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Währungsunion vor einer gewaltigen Herausforderung steht. Regionale Unterschiede bei der Arbeitslosigkeit innerhalb einzelner Länder sind nichts Ungewöhnliches. Der Euroraum ist jedoch keine formale politische Union und verfügt deshalb nicht über dauerhafte Mechanismen zur Risikoteilung, vor allem in Form öffentlicher Transferzahlungen. [ 18] Die grenzüberschreitenden Migrationsströme sind vergleichsweise gering und dürften wohl kaum jemals zur zentralen Triebfeder für Arbeitsmarktanpassungen nach umfangreichen Schocks werden.[ 19]

Für den langfristigen Zusammenhalt des Eurogebiets ist es also erforderlich, dass jedes Land in der Union ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau erreicht. Angesichts der sehr hohen Kosten, die mit einer Gefährdung des Zusammenhalts der Währungsunion einhergehen, sollten alle Länder ein Interesse daran haben, dieses Ziel zu erreichen.

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Der Text ist um Bemerkungen zur Inflation ergänzt worden, die während des Vortrags neu hinzukamen.

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[ 1]Es gilt jedoch zu beachten, dass die im Vergleich zu den USA abweichende Entwicklung der Arbeitslosigkeit im Eurogebiet auch auf große Unterschiede bei der Erwerbsbeteiligung zurückzuführen ist. Im Zeitraum von 2010 bis 2012 trug die geringere Erwerbsbeteiligung in erheblichem Maße zum Rückgang der Arbeitslosenquote in den USA bei. Umgekehrt erklärt sich der Anstieg der Arbeitslosenquote im Euro-Währungsgebiet zum Teil aus der zunehmenden Erwerbsbeteiligung. Wäre die Erwerbsbeteiligung sowohl in den USA als auch im Euroraum gegenüber 2007 unverändert geblieben und hätte sich die Differenz gegenüber den tatsächlichen Quoten vollständig in der Zahl der Arbeitslosen niedergeschlagen, so wäre die Arbeitslosenquote in den Vereinigten Staaten 2012 höher ausgefallen als im Eurogebiet. Weitere Einzelheiten hierzu finden sich in: EZB, Entwicklungen am Arbeitsmarkt des Euro-Währungsgebiets und der Vereinigten Staaten seit Beginn der weltweiten Finanzkrise, Kasten 7, Monatsbericht August 2013.

[ 2]Die Kreditlücke berechnet sich als Differenz zwischen der tatsächlichen und der kontrafaktischen, mittels des Mehrländer-BVAR von Altavilla et al. (2014) simulierten Entwicklung der gesamten Kreditvergabe an nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften. Die kontrafaktische Entwicklung wurde durch Messung des Kreditbestands ermittelt, der mit den vergangenen konjunkturellen Verlaufsmustern vor der Krise bei Abwesenheit finanzieller Spannungen für das Bankensystem im Einklang steht. Weitere Angaben hierzu finden sich in: C. Altavilla, D. Giannone und M. Lenza, The Financial and Macroeconomic Effects of the OMT Announcements, Working Paper Series der EZB, Nr. 1707, 2014.

[ 3]In den USA auf branchenebene durchgeführte Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass hinter dieser geringeren Effizienz des Ausgleichsprozesses größtenteils die niedrige Zahl offener Stellen und Einstellungen pro offener Stelle im Baugewerbe steht. Siehe beispielsweise R. Barnichon, M. W. L. Elsby, B. Hobijn und A. Șahin, Which Industries are Shifting the Beveridge Curve?, Monthly Labor Review, Juni 2012, S. 25-37; S. J. Davis, R. J. Faberman und J. C. Haltiwanger, Recruiting Intensity during and after the Great Recession: National and Industry Evidence, American Economic Review: Papers and Proceedings, 2012.

[ 4]Auf der Grundlage von Indizes zum qualifikatorischen Mismatch, die sich als Differenz zwischen Qualifikationsnachfrage (näherungsweise ermittelt als Bildungsstand der Beschäftigten) und Qualifikationsangebot (näherungsweise ermittelt als Bildungsstand der Erwerbsbevölkerung bzw. Arbeitslosen) berechnet. Siehe Comparisons and contrasts of the impact of the crisis on euro area labour markets, Occasional Paper Series der EZB (zur Veröffentlichung vorgesehen).

[ 5]Bei der Berechnung der strukturellen Arbeitslosigkeit nimmt die Europäische Kommission eine Schätzung der NAWRU vor, während die OECD mithilfe einer Filtertechnik die NAIRU schätzt, mit der Änderungen der Arbeitslosenquoten auf Basis einer Phillips-Kurven-Beziehung in ihre strukturellen und konjunkturellen Komponenten aufgegliedert werden sollen. Die Schätzungen des IWF stützen sich nicht auf eine „offizielle“ Methode. Dies bedeutet, dass der IWF kein Modell oder keine Methodik veröffentlicht, da die dort intern erstellten Schätzungen auf Ermessenseinschätzungen beruhen.

[ 6]Europäische Kommission, Labour Market Developments in Europe 2013, European Economy 6/2013.

[ 7]In der kurzen Phase vor der Krise von 1995 bis 2007, für die einheitliche Daten zum Eurogebiet vorliegen, beliefen sich die durchschnittlichen Arbeitslosenquoten in Frankreich und Italien auf rund 9 %, in Spanien aber auf über 14 %. In Deutschland lag die Arbeitslosenquote ebenfalls bei 9 %, allerdings nur aufgrund eines vorangegangenen deutlichen Anstiegs infolge der Wiedervereinigung.

[ 8]O. Blanchard und J. Wolfers (1999), The Role of Shocks and Institutions in the Rise of European Unemployment: the Aggregate Evidence, NBER Working Paper Nr. 7282.

[ 9]Siehe M. C. Burda und J. Hunt, What Explains the German Labour Market Miracle in the Great Recession, NBER Working Paper Nr. 17187, 2011; und K. Brenke, U. Rinne und K. F. Zimmermann, Short-time work: The German answer to the Great Recession, International Labour Review, Bd. 152, Ausgabe 2.

[ 10]Durchschnitt der Schätzungen von Europäischer Kommission, OECD und IWF.

[ 11]EZB, Wage Dynamics in Europe: Final Report of the Wage Dynamics Network (WDN), 2010.

[ 12]Siehe OECD, How Does Spain Compare?, in: OECD Employment Outlook, 2012.

[ 13]OECD, The 2012 Labour Market Reform in Spain: a Preliminary Assessment, Dezember 2013.

[ 14]In den Empfehlungen für das Euro-Währungsgebiet, die während des Europäischen Semesters 2014 verabschiedet wurden, wird die Eurogruppe ausdrücklich dazu aufgefordert, nach Wegen zur Verringerung des hohen Steuerkeils beim Faktor Arbeit zu suchen.

[ 15]A. Alesina, C. Favero and F. Giavazzi, The output effect of fiscal consolidation plans, mimeo, Mai 2014.

[ 16]Der künftige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, hat ein 300 Mrd € starkes öffentliches Investitionsprogramm vorgeschlagen, um einen Anreiz für private Investitionen in die Wirtschaft der EU zu setzen.

[ 17]O. Blanchard, European unemployment, in: Economic Policy, S. 5-59, 2006.

[ 18]Im Rahmen der Kohäsionspolitik der EU kommt es zu grenzüberschreitenden Transfers zwischen Ländern des Euroraums. Diese Mittel werden jedoch grundsätzlich nur vorübergehend zur Verfügung gestellt, da so Länder mit einem niedrigeren Einkommensniveau beim Aufholprozess unterstützt werden sollen.

[ 19]R. C. M. Beyer und F. Smets, Has mobility decreased? Reassessing regional labour market adjustments in Europe and the US, mimeo, EZB, 2013.

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