Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Euro-Geldscheine und -Münzen sind nicht nur Zahlungsmittel. Die Brücken und Bögen auf unseren Geldscheinen stehen symbolisch für die europäische Integration. Sie stehen dafür, dass uns innerhalb der Währungsunion sehr viel verbindet und dass es dem einstmals so zerstrittenen Kontinent gelungen ist, auch noch so tiefe Gräben zu überwinden, wie auch jüngst die Krise gezeigt hat.
Unsere gemeinsame Währung steht daher auch für gemeinsame Werte. „[…] institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten“ zählt seit dem Europäischen Rat im Juni 1993 in Kopenhagen zu den Aufnahmekriterien für die Mitgliedschaft in der EU; „Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, dass die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können.“ [1].
Auch im kürzlich veröffentlichten Gutachten des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof im Verfahren Gauweiler/die Linke gegen die EZB zu Offenmarkt-Ankaufgeschäften wird auf diese grundgesetzähnlichen gemeinsamen Rechtswerte hingewiesen. Dieser sogenannte „Verfassungspakt“ liegt der europäischen Integration zugrunde und bezieht das bundesverfassungsgerichtliche Prinzip der Verfassungsidentitätskontrolle mit ein – und grenzt es nicht aus. [2]
Unlängst haben die europaweiten Solidaritätsbekundungen nach den barbarischen Terroranschlägen auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ in Paris verdeutlicht, welchen zentralen Platz das Recht auf freie Rede und Meinungsäußerung in unserem Wertekanon einnimmt.
Es sind nicht zuletzt diese Freiheitswerte, denen in den neueren Mitgliedsländern aus dem ehemaligen Ostblock ein ganz besonders hoher Stellenwert zukommt. In dem Bewusstsein, dass die gemeinsame Währung innerhalb der EU ein Mehr an Integration dokumentiert, wird die Euro-Einführung gerade in Ländern wie zuletzt Litauen auch als Abgrenzung und Schutz vor vermeintlich aggressiven Hegemonialmächten wahrgenommen.
Das zeigt: Die Europäische Union und der Euroraum sind weit mehr als ein Zusammenschluss unabhängiger Nationalstaaten.
Gemeinsame Werte sind umso wichtiger, wenn der Kitt fehlt, der typischerweise die Teile einer vollständigen politischen Union zusammenhält. Oft sind das neben der gemeinsamen Identität – ein loses Konzept, das in der Vergangenheit mitunter bösartig missbraucht wurde, aber das auch nicht auf eine noch so erfolgreiche Fußballmannschaft reduziert werden kann – oder Sprache dauerhafte Transferleistungen zum Ausgleich der Lebensverhältnisse. Deutschland kennt dies in Form des horizontalen Länderfinanzausgleichs sowie der Transferleistungen in die neuen Bundesländer, die über den sogenannten Solidaritätszuschlag finanziert werden.
Es kann durchaus sein, dass der politische Wille eine Tages fiskalische Transfers zwischen den Mitgliedstaaten des Euroraums als notwendig und wünschenswert erachtet. Das würde dann aber eine Änderung der Europäischen Verträge voraussetzen. Innerhalb des gültigen Treaty ist eine Transferunion nicht vorgesehen. Und ob man es mag oder nicht: Das gilt für die Vorder- wie die Hintertür.
Darüber müssen sich auch diejenigen im Klaren sein, die mehr – finanzielle – Solidarität fordern. Mehr innereuropäische Solidarität im diesem Sinne würde auch mehr europäische Kontrolle erfordern. Noch haben wir aber weder ein dafür demokratisch legitimiertes „Euroraum-Parlament“ noch ein supranationales Budget, das diese Bezeichnung verdiente.
Derzeit sehe ich entsprechend wenig Bereitschaft der nationalen Parlamente, ihr „Königsrecht“ an die europäische Ebene abzutreten. Die Kehrseite dieser Medaille ist aber, dass den Mitgliedstaaten mit ihren jeweiligen nationalen Budgets ungleich mehr Eigenverantwortung zukommt.
Auch ohne Finanztransfers muss es für die Mitgliedstaaten aber Gründe geben, warum es für sie attraktiver ist, Teil der Währungsunion zu sein als außen vor zu bleiben. Dazu müssen sie innerhalb des Euroraums besser dastehen als außerhalb. Konkret soll die Mitgliedschaft im Euro mehr Stabilität und Wohlstand bringen.
Hierfür hat die Währungsunion bereits erhebliche Integrationsschritte vollzogen. Aber mit einem gemeinsamen Binnenmarkt und einheitlicher Geldpolitik alleine ist es auf Dauer nicht getan.
Mit strengeren Haushaltsregeln für die Euro-Länder, einem Stabilitätsmechanismus und einer Bankenunion steht die Währungsunion heute deutlich besser da als zu Beginn der Krise. Trotz dieser Integrationsschritte können wir aber noch immer nicht von einer vollendeten Währungsunion sprechen.
Angesichts des Erreichten die Hände in den Schoß zu legen, wäre daher falsch. Die Währungsunion weiterzuentwickeln ist ein permanenter Auftrag.
Grundsätzlich hängt in einer Währungsunion der Wohlstand jedes einzelnen Landes immer auch von der Finanz- und Wirtschaftspolitik der übrigen Mitgliedstaaten ab. Die Mitgliedstaaten befinden sich gewissermaßen in einer Schicksalsgemeinschaft. Deshalb sind alle Regierungen gut beraten, wenn sie die übrigen Mitgliedstaaten berücksichtigen und ihre Politiken gegebenenfalls auch aufeinander abstimmen. Die Mitgliedstaaten brauchen daher nicht nur eine gemeinsame Geldpolitik, sondern profitieren davon, wenn sie auch in anderen Politikbereichen mehr Souveränität teilen.
Wenn ich von „Souveränität teilen“ rede, heißt das keineswegs, dass die Mitgliedstaaten eigenständige Entscheidungsmacht oder gar ihre nationale Identität verlieren. Im Gegenteil: Je mehr Souveränität die Mitgliedstaaten teilen, desto mehr Einfluss können sie mitunter erlangen. Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels verdeutlichen:
Vergangenes Jahr soll Litauens Finanzminister, Rimantas Šadžius, gesagt haben: „Wir haben den Euro bereits. Er hat nur einen anderen Namen“. Was er damit ausdrücken wollte, war, dass Litauens Geldpolitik maßgeblich von der EZB geprägt war. Seit 2002 war der Litas an den Wechselkurs des Euro gekoppelt; davor an den US-Dollar. Am Donnerstag hat Vitas Vasiliauskas, der Vorsitzende des Direktoriums der Lietuvos bankas, nun zum ersten Mal die Geldpolitik der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt mitbestimmen dürfen.
In Zeiten stark verflochtener Volkswirtschaften bedeutet Souveränität zu teilen, Einfluss zu gewinnen. Und genau diese gemeinsame Beschlussfassung zum Wohle aller ist Grundvoraussetzung dafür, dass die Währungsunion ihren Mitgliedern mehr Stabilität und Wohlstand bringen kann.
Das gilt besonders, wenn es darum geht, einen einheitlichen europäischen Finanzmarkt zu schaffen. Auf diesen Aspekt möchte ich heute etwas genauer eingehen. Aktuell ist – als logische Konsequenz der im vergangenen Jahr geschaffenen Bankenunion – eine Kapitalmarktunion im Gespräch.
Warum Europa eine Kapitalmarktunion braucht
Europas Wirtschaft ist geprägt von kleinen und mittelgroßen Unternehmen. Sie stellen zwei von drei Arbeitsplätzen und generieren etwa 60 % der Wertschöpfung. Und gerade diese Unternehmen finanzieren sich fast ausschließlich über den heimischen Bankensektor. In den meisten Ländern vergeben dabei aber nur einige wenige Banken den Hauptteil der Unternehmenskredite. Das macht die Wirtschaft anfällig gegenüber und abhängig von diesem Sektor.
In den USA hingegen ist es durchaus üblich, dass Unternehmen direkt am Kapitalmarkt Geld aufnehmen. Und das auch nicht zwingend in dem Bundesstaat, in dem sie ihren Firmensitz haben. Diese Form der Unternehmensfinanzierung macht die Wirtschaft sehr viel weniger anfällig gegenüber etwaigen Problemen im Bankensektor. Sie ist in Europa allerdings deutlich unterentwickelt.
Auch sollte man in einer Währungsunion einen vollständig integrierten Kapitalmarkt erwarten. Das würde zum Beispiel heißen, dass ein kreditwürdiger Osnabrücker Unternehmer problemlos in den Niederlanden eine Anleihe ausgeben kann. Oder ein Lissabonner in Frankreich. Schließlich teilen Frankreich, Portugal, die Niederlande, Deutschland und 15 weitere Länder dieselbe Währung.
Ein wirklich integrierter Kapitalmarkt käme der europäischen Wirtschaft nicht nur zugute, weil er für eine effiziente und ortsunabhängige Zuteilung von Finanzierungsmitteln sorgen würde. Er brächte auch eine stärkere Risikostreuung mit sich.
Risikostreuung bedeutet zum einen, einen ausgeglichenen Finanzierungsmix anzustreben. Wenn Europas Unternehmen sich nicht vornehmlich über Bankkredite finanzieren, sondern beispielsweise auch über Unternehmensanleihen, kann die Wirtschaft auch dann prosperieren, wenn die Banken eher zögerlich sind in ihrer Kreditvergabe. Derzeit finden in Europa allerdings nur etwa 20 % bis 25 % der Fremdfinanzierung über Kapitalmärkte statt. Zum Vergleich: In den USA sind es etwa 80 %.
Nun können wir nicht von heute auf morgen einen völlig neuen Finanzierungsmix in Europa erwarten. Deshalb bleibt ein gesunder Bankensektor Grundvoraussetzung dafür, dass KMUs Zugang zu Krediten haben. Mittel- bis langfristig wäre es aber wünschenswert, sich nicht nur auf diesen Sektor verlassen zu müssen, sondern auch alternative Finanzierungsmöglichkeiten zu fördern, etwa mittels einer angemessenen Regulierung des Verbriefungsmarktes.
Zum anderen bedeutet Risikostreuung, dass Finanzmärkte in einer Währungsunion eigentlich unabhängig von nationalen Grenzen funktionieren sollten. Dann können wirtschaftliche Schocks besser abgefedert werden, weil sich die Länder über den Privatsektor gewissermaßen gegenseitig absichern. Wenn beispielsweise ein Teil der Vermögenswerte eines Landes von ausländischen Investoren gehalten wird, tragen diese Investoren auch teilweise die Konsequenzen etwaiger wirtschaftlicher Schocks. Diese Schocks wirken sich dann weniger stark auf das Gastland aus. Ebenso kann ein Land seine Anfälligkeit gegenüber Schocks verringern, indem es selber ein geografisch diversifiziertes Portfolio hält. Schließlich helfen integrierte Finanzmärkte, nationale Schocks abzufedern, weil Unternehmen und Verbraucher in Krisenzeiten auch auf ausländische Kapitalmärkte und Banken zurückgreifen können.
In den Vereinigten Staaten funktioniert diese Risikobeteiligung des Privatsektors sehr gut. Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge gleichen Kapital- und Kreditmärkte etwa zwei Drittel eines wirtschaftlichen Schocks aus. [3] Die europäischen Finanzmärkte absorbieren solche Schocks weit weniger effektiv und ihre Absorptionsfähigkeit hat im Laufe der Krise weiter abgenommen. [4]
Die Ausgestaltung der Kapitalmarktunion – regulatorische Harmonisierung und institutionelle Effizienz
Die Kommission wird demnächst einen ersten Vorschlag unterbreiten, wie eine Kapitalmarktunion konkret aussehen könnte. Dieser Vorschlag wird dann der öffentlichen Diskussion gestellt. Noch sind keine Details bekannt, aber ich möchte gerne meine Vorstellungen einer effektiven Kapitalmarktunion mit Ihnen teilen.
Unter dem Begriff „Kapitalmarktunion“ verstehe ich mehr, als nur ein bisschen am bestehenden Regelwerk herumzufeilen. Es gilt, auch politisch schwierige Bereiche anzugehen, wie etwa die Offenlegungspflichten von Unternehmen, die Finanzinfrastrukturaufsicht, das Insolvenzrecht und eine EU-weite Angleichung der Kapitalertragssteuerregeln. Im Bereich Zahlungssysteme haben wir bereits viel erreicht, um die Grenzen zu überwinden und die Kosten für den Bürger deutlich zu senken, seit wir einen einheitlichen europäischen Zahlungsraum (SEPA) geschaffen haben. Jetzt muss die bestehende Regulierung mit allem Druck umgesetzt werden. Ähnliches gilt es mittelfristig beim grenzüberschreitenden Einsatz von Kreditkarten zu erreichen: In einer Währungsunion sollte es im Zahlungsverkehr überhaupt keine „Roaming“-Gebühren geben.
Das Grundprinzip des freien Kapitalverkehrs geht schon auf die Römischen Verträge [5] zurück und genießt seit dem Maastrichter Vertrag denselben Status wie die übrigen Binnenfreiheiten. Ich denke, es ist an der Zeit, darüber nachzudenken, welche regulatorischen und institutionellen Anpassungen inzwischen notwendig geworden sind, um die Vorteile des gemeinsamen Kapitalmarktes voll auszuschöpfen.
Zunächst zur regulatorischen Dimension. Bleiben wir bei dem Beispiel des Osnabrücker Unternehmers. Wenn seine Firma in den Niederlanden eine Anleihe ausgeben will, einigt sie sich mit dem Investor, ob diese Transaktion unter deutschem oder niederländischem Recht stattfindet. Das klingt zunächst nach einem relativ einfachen Weg, grenzüberschreitende Finanztransaktionen trotz divergierender nationaler Gesetzesgrundlagen abzuwickeln.
Häufig sind Finanztransaktionen allerdings sehr viel komplexer. Es kann eine ganze Kette von Finanzvermittlern geben, sodass für den effektiven Käufer unklar ist, welche Rechtsansprüche er besitzt oder über welche Eigentumsrechte er verfügt. Denn die Rechtsposition, die ein Kontoinhaber „besitzt“ sobald ein Wertpapier auf sein Konto gebucht wird, unterscheidet sich sehr stark. In einigen Ländern genießt er das volle und ungeteilte Eigentum. In anderen Ländern erhält er eine Position, die „unterlegen“ ist. Also beispielsweise eine indirekte Immobilienbeteiligung oder einen bloßen Anspruch gegenüber dem Kontoanbieter.
Bereits Anfang dieses Jahrhunderts hat eine Gruppe von Finanzmarktexperten um Alberto Giovannini Vorschläge ausgearbeitet, wie die Finanzmärkte der EU stärker vereinheitlicht werden können. In zwei Berichten [6] unterbreiteten die Vertreter der Privatwirtschaft, der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank konkrete Empfehlungen, wie beispielsweise regulatorische Hemmnisse abgebaut werden könnten.
Einige dieser Vorschläge und Empfehlungen sind heute, bald zwölf Jahre nach Erscheinen des zweiten Berichts, noch immer nicht umgesetzt. So haben wir eben beispielsweise weiterhin keine EU-weite Regelung zur Handhabung von Eigentümerinteressen an Wertpapieren.
Um noch einmal den Vergleich mit den Vereinigten Staaten heranzuziehen: In Europa kostet eine grenzüberschreitende Wertpapiertransaktion mindestens zehnmal so viel wie in den USA.
Ich denke, es leuchtet ein, dass Europas Wirtschaft sehr davon profitieren könnte, wenn entsprechende regulatorische Hemmnisse im Rahmen einer Kapitalmarktunion abgebaut würden.
Neben einer harmonisierten Regulierung von Wertpapieren sollten wir auch einen vereinheitlichten Rechtsrahmen für das Krisenmanagement anstreben. Mit der Verordnung des Rates über grenzüberschreitende Insolvenzverfahren haben wir ein gemeinsames regulatorisches Rahmenwerk, das etwa gerichtliche Zuständigkeiten und die Anerkennung von Gerichtsentscheiden regelt. Aber innerhalb dieses Rahmenwerks gibt es deutliche nationale Unterschiede – etwa, was die Frage angeht, inwieweit die verschiedenen Interessengruppen bei einer Insolvenz geschützt werden.
Zu einer Kapitalmarktunion gehört meiner Meinung nach auch ein einheitlicher Abwicklungsrahmen für Nichtbanken, also etwa Central Counterparties (CCPs) (entsprechend der Richtlinie über die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen (BRRD)). Auch für Wertpapier-Zentralverwahrer (Central Securities Depositories – CSDs) sollten wir eine umfassende Abwicklungsregelung haben, um das Spielfeld zwischen Banken und Nichtbanken zu ebnen.
Das sind nur ein paar Beispiele. Generell gilt es, die Regulierung der Finanzmärkte so zu harmonisieren, dass ein einheitlicher europäischer Kapitalmarkt reibungslos funktionieren kann. Ganz wichtig dabei ist, im Hinterkopf zu behalten, dass Harmonisierung und Standardisierung nicht gleichzusetzen sind mit Gleichmacherei oder gar dem Eingriff in kulturelle Identitäten. Einen Computer kann man in allen Mitgliedstaaten verwenden, und die Anschlüsse sind so konfiguriert, dass ich die Tastaturen mit unterschiedlichen Sprach-Layouts problemlos austauschen kann. Diese technische Standardisierung steht der sprachlichen Vielfalt also nicht im Wege.
Aber mit harmonisierter Regulierung allein ist es nicht getan. Wir brauchen auch institutionelle Anpassungen.
Wenn es – wie im Fall der Kapitalmarktunion – darum geht, Regeln so umzusetzen und anzuwenden, dass überall in der EU dieselben Bedingungen herrschen, dann gibt es meiner Meinung nach prinzipiell zwei Herangehensweisen:
Entweder, der Gesetzgeber schafft strikte Regeln, die keinen Interpretationsspielraum zulassen. Dann kann die Umsetzung und Anwendung dezentral, also auf nationaler Ebene, erfolgen. In dem Fall wären institutionelle Anpassungen nicht zwingend erforderlich. Oder aber der Gesetzgeber wünscht flexiblere Regeln. Dann braucht man eine supranationale Instanz, die dafür sorgt, dass diese Regeln in allen Mitgliedstaaten der Union gleich ausgelegt und angewendet werden.
Dieses Abwägen zwischen Ermessensspielraum und Zentralisierung spielt beispielsweise eine Rolle, wenn es um die Beaufsichtigung von Wertpapiermärkten, Instrumenten oder aber Marktinfrastrukturen geht. Die tagtägliche Aufsicht liegt derzeit weitgehend in nationaler Hand. Wir sollten überlegen, inwieweit das weiterhin angemessen ist und welche Rolle die europäischen Aufsichtsbehörden künftig spielen werden. Ihr Tätigkeits- und Aufgabenbereich wird derzeit in Brüssel überprüft.
Schlussgedanken
Sie sehen: Es handelt sich bei der Kapitalmarktunion um ein größeres Projekt, das sich bestimmt nicht von heute auf morgen in die Tat umsetzen lässt. Ganz zu schweigen von weiteren notwendigen Integrationsschritten in anderen Politikfeldern.
Das sollte uns aber nicht entmutigen, dieses Projekt überhaupt anzugehen. Dass wir nicht von Tag eins an eine vollendete Währungsunion hatten und sie auch heute noch immer nicht haben, ist für Politologen vollkommen normal. Kaum ein internationales Abkommen konnte im ersten Anlauf so ambitioniert ausgehandelt werden, wie sich das einige Unterhändler vielleicht gewünscht hätten. Auch Amerikas Währungsunion hat viele Jahrzehnte und Krisen gebraucht, um die heutige Verfassung zu erreichen.
Im Bericht der vier Präsidenten (EU-Kommission, Europäischer Rat, Eurogruppe, EZB) an die Staats- und Regierungschefs im Dezember 2012 wird von der notwendigen Vervollständigung der Wirtschafts- und Währungsunion gesprochen. Dazu gehören Überlegungen zu einer Fiskalunion und sogar einer politischen Union, die schwierig sind und die ich heute nicht angesprochen habe.
Erinnern wir uns: Europas Staats- und Regierungschefs haben bereits mit dem Vertrag von Maastricht „den Grundstein für die Vollendung der Europäischen Union gelegt“. Dieser Vertrag habe, so der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl, „eine neue, entscheidende Etappe des Europäischen Einigungswerks ein[geleitet], die in wenigen Jahren dazu führen wird, das zu schaffen, was die Gründungsväter des modernen Europa nach dem letzten Krieg erträumt haben: die Vereinigten Staaten von Europa“ [7].
Es wird Zeit, dass diesem Bekenntnis Taten folgen.
Und selbst eine solch vollkommene Union würde nicht bedeuten, dass die Mitgliedstaaten ihre nationale Identität aufgeben. Im Gegenteil, sie nehmen ihre nationale Identität mit in den Euroraum. Deshalb sprechen wir gelegentlich von „Einheit in Vielfalt“. Die Euro-Ausstellung veranschaulicht das: Während die Vorderseiten der Münzen einheitlich gestaltet sind, prägt jedes Mitglied landesspezifische Rückseiten, die häufig nationale Identitätssymbole tragen, wie beispielsweise die Freiheitsallegorie Milda auf den lettischen Euro-Münzen. Aber machen Sie sich selber ein Bild. Ich wünsche Ihnen viel Spaß auf der Ausstellung und danke der Bundesbank und der Stadt Osnabrück für die Einladung zur heutigen Eröffnungsveranstaltung.
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[1]Europäischer Rat Kopenhagen 21.-22. Juni 1993: Schlussfolgerungen des Vorsitzes, http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/72924.pdf
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[2]Siehe Schlussanträge des Generalanwalts PEDRO CRUZ VILLALÓN in der Rechtssache C-62/14 Peter Gauweiler, et al. sowie die Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag gegen Deutscher Bundestag (Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverfassungsgerichts [Deutschland]) vom 14. Januar 2015, Absatz 38 ff.
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[3]Siehe Sørensen, B. E. und Yosha, O. (1996): Channels of interstate risk sharing: United States 1963-1990, The Quarterly Journal of Economics, 111(4).
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[4]Siehe van Beers, Nancy, Bijlsma, Michiel und Zwart, Gijsbert (2014): Cross-Country Insurance Mechanisms in Currency Unions: An Empirical Assessment. Bruegel Working Paper 2014/04, IWF (2013): Towards a Fiscal Union for the euro area: technical background notes, September 2013, http://www.imf.org/external/pubs/ft/sdn/2013/sdn1309tn.pdf
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[5]Damals noch mit der Einschränkung: „[…] soweit es für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig ist“.
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[6]http://ec.europa.eu/internal_market/financial-markets/docs/clearing/first_giovannini_report_en.pdf http://ec.europa.eu/internal_market/financial-markets/docs/clearing/second_giovannini_report_en.pdf
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[7]Helmut Kohl, „Zielvorstellungen und Chancen für die Zukunft Europas“, Rede vom 3. April 1992.